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Papa

Papa

Titel: Papa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven I. Hüsken
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betäubt, was ihr das Denken erschwerte. Mehr noch. Sie glaubte, sich an
nichts
erinnern zu können. So als ob die Erinnerungen tief in einem dunklen Gewölbe ihres Bewusstseins weggesperrt worden waren und man nur noch ihre Schreie vernehmen konnte. Ihr Echo.
    Es dämmerte bereits. Das Fenster vor ihrem Bett war mit einem Vorhang zugezogen, so dass kaum etwas von dem dunstigen Morgen in ihr Zimmer drang. Bald schon würde die Sonne aufgehen, falls es die Wolken zuließen.
    Lillian schlug die Decke zur Seite und richtete sich auf. Die Luft strich über ihre Haut und ließ sie frösteln. Sie prustete und rieb sich die Arme warm.
    War sie in diesem Zimmer eingeschlafen? Es kam ihr bekannt vor, und dennoch glaubte sie, das erste Mal hier zu sein.
    Ihr gegenüber stand eine Kommode, auf der Unterwäsche verteilt lag. Darüber hing das Poster einer Boyband. Auf dem Nachttisch neben ihr befanden sich ein Glas Wasser und eine Packung Kopfschmerztabletten. Erst jetzt merkte sie den pulsierenden Schmerz, der sich vom Hinterkopf über die Schläfen zur Stirn fraß. Übelkeit überkam sie, und sie ließ sich zurück ins Kissen sinken. Alles drehte sich.
    Mit zittrigen Fingern langte sie nach den Tabletten und spülte eine von ihnen mit einem ordentlichen Schluck Wasser hinunter. Dann schloss sie wieder die Augen.
    Jeder Gedanke war wie ein glühender Pfeil in ihrem Kopf.
Besser nicht denken
.
Nur liegen und warten, bis die Schmerzen nachlassen.
    So schlummerte sie wieder ein.
    »Lillian, ich brauche deine Hilfe. Ich brauche deine Hilfe! Lillian! Lilly!« Das letzte Wort war der Schrei eines Mannes, und er riss sie aus einem Traum heraus. Sie krallte sich in das Bettlaken und atmete heftig. Ihre Augen suchten nach einem vertrauten Muster.
    Hatte sie geträumt, oder hatte tatsächlich jemand nach ihr gerufen?
    Das letzte Wort war ihr Name gewesen, nicht wahr? Sie erinnerte sich nicht genau. Lillian. Ja, ihr Name war Lillian.
    Nein, der Mann hatte noch etwas anderes gerufen! War es
ihr
Name oder einer, der nur ähnlich klang?
    Lillian lauschte, während sie sich langsam beruhigte. Es war still im Haus. Also doch nur ein Traum. Erleichtert atmete sie aus. Die Kopfschmerzen und die Übelkeit waren fort. Die Tablette hatte geholfen, dennoch nahm sie noch eine. Nur zur Sicherheit. Danach stand sie auf und zog die Vorhänge zur Seite. Es war ein trüber Tag voller Wolken.
    Sie zog ihren Schlafanzug aus und griff sich eine Bluse, die achtlos über einer Stuhllehne hing.
    Sie erinnerte sich nicht, jemals eine rosafarbene Bluse getragen zu haben, und doch schien es ihre zu sein. Sie passte ihr ausgesprochen gut, und der Duft ihres Lieblingsparfums klebte daran.
    Sie zog sich eine Jeans an und ging zur Tür.
    War es eine gute Idee, hinauszugehen, obwohl sie nicht wusste, wo sie war? Vielleicht war sie krank? Das würde auch erklären, warum sie sich so schlapp fühlte.
    Verzweifelt verharrte sie in der Bewegung, unschlüssig etwas zu tun.
    Es gelang ihr nicht, sich zu konzentrieren. Einen Gedanken zu fassen war, wie in einen schwimmenden Apfel zu beißen. In dem Moment, wo man ihn berührte, entglitt er einem.
    Sie drückte die Klinke herunter und zog an ihr. Verschlossen. Sie versuchte es noch einmal ohne Erfolg.
    Holzdielen knarren vor der Tür. Jemand atmete direkt auf der anderen Seite.
    Sie hörte ihr Blut rauschen. Lauter und lauter.
    Wenn nur diese Müdigkeit nicht wäre. Ihre Augenlider ließen sich kaum dazu überreden, offen zu bleiben.
    »Lillian!« Wieder die Stimme des Mannes. Aber sie
hörte
sie nicht. Sie
dachte
sie nur.
    Lillian legte ein Ohr an die Tür und lauschte. War da ein Stöhnen? Sie versuchte, nicht zu atmen, doch das Rauschen in ihren Ohren war zu laut. Sie hörte nichts anderes mehr.
    Nach einer Weile ging sie zum Fenster zurück. Sie blickte in den Garten, der in einem Feld mündete. Dahinter rauschte ein Wald. Ein Gefühl beschlich sie, als ob ein Teil von ihr dort draußen wäre. Weinend. Wartend. Vielleicht hatte man sie in zwei Teile geschnitten, und im Wald kauerte der Teil von ihr, der denken konnte?
    Mit einem lauten Knall wurde die Tür aufgerissen.
    Aber sie war doch abgeschlossen?
    Lillian zuckte zusammen und wirbelte herum. Ein Mann stand in der Tür. Er sah alt aus. Seine Augen allerdings waren flink. Wie ein Wiesel schaute er quer durch das Zimmer, und sein Blick blieb schließlich auf ihr hängen.
    Eine erste klare Erinnerung quälte sich aus dem trüben Teich ihres Bewusstseins an die

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