Papa
potenzielle Triebtäter, tödliche Fallen und grausame Mörder. Im Grunde war es nur eine Frage der Zeit, bis das eigene Kind bei einer banalen Sache ums Leben kam. Zum Glück steckte in der Regel nichts dahinter. Das wusste sie. Aber gegen solche Gefühle kam der Verstand nicht an. Doch ein klarer Verstand war das, was sie jetzt brauchte.
Nein, Michelle, du machst dir keine unnötigen Gedanken. Du machst dir unnötige
Hoffnungen
. Das ist alles.
Es klackte, als am anderen Ende abgenommen wurde. Eine weibliche, leicht genervte Stimme meldete sich. »Ja? Was?« Ein kleines Kind brüllte im Hintergrund.
Michelle räusperte sich, um sich noch einmal zu sammeln. Sie wollte nicht zu hysterisch klingen, aber dennoch mit Nachdruck die Situation erklären. »Guten Abend. Entschuldigen Sie bitte die Störung, mein Name ist Michelle Kettler, ich bin Lillys Mutter. Ihre Tochter war mit ein paar Freundinnen heute in der Stadt.«
»Hören Sie«, unterbrach sie die Frau in der Leitung, »ich weiß nicht, was Sie wollen, aber ich habe im Augenblick keine Zeit.« Das Schreien im Hintergrund schraubte sich in die Höhe, bis ein Mann mit einstimmte und von der Frau in die Schranken gewiesen wurde.
Offenbar hatte Michelle einen schlechten Zeitpunkt erwischt. Sie unterdrückte ein Schluchzen und setzte noch mal an. »Es tut mir leid, Frau Sanders, wenn ich Sie störe, aber dies hier ist wichtiger als ein unzufriedenes Kind.«
Jetzt klang die Frau ernsthaft verärgert. »Wichtig?
Sie
sagen
mir
, was wichtiger ist als mein Kind? Wer in drei Teufels Namen sind Sie, dass Sie sich die Frechheit herausnehmen können, mir zu sagen, was wichtig ist und was nicht?«
Michelle spürte Wut, die ihre Kehle emporkrabbelte und die sie nur mit Mühe von ihrer Zunge fernhalten konnte. »Hören Sie mir jetzt sehr genau zu. Meine Tochter ist verschwunden, und Ihre Tochter ist wahrscheinlich die Letzte, die sie gesehen hat. Entweder Sie holen mir Alex augenblicklich ans Telefon, oder ich werde die Polizei zu Ihnen schicken. Oh, und das Jugendamt wird sich dafür interessieren, welchen Umgangston Sie mit Ihren Kindern pflegen. Haben Sie mich verstanden?« Ihr Herz trommelte gegen die Brust.
Das Telefon schwieg. Michelle glaubte schon, die Frau hätte aufgelegt, als es in der Leitung raschelte und sich ein Mädchen meldete. Sie klang verheult und zog ab und an die Nase hoch. »Frau Kettler, hier ist Alex.«
Michelle atmete tief durch.
Bitte Gott
, dachte sie,
lass sie wissen, wo Lilly ist
. »Hallo Alex«, sagte sie so sanft es ihr möglich war. »Du warst heute Nachmittag in dem Café mit Lilly.«
»Ja?«
»Hast du … weißt du, wo Lilly danach hingegangen ist? Sie ist nicht nach Hause gekommen. Ich mache mir Sorgen.« Sie drehte das Polaroid in ihrer Hand und warf es mit einem Mal von sich.
Fingerabdrücke.
Verdammt, verdammt, verdammt.
Hitze stieg in ihr auf. Warum hatte sie daran nicht gedacht? Sie hatte völlig unbedacht mögliche Fingerabdrücke auf dem Foto zerstört.
Wen interessieren Fingerabdrücke? Du weißt, von wem das Foto kommt, nicht wahr? Wer sonst sollte dafür verantwortlich sein, wenn nicht
er
?
Michelle schüttelte den Kopf. Das konnte nicht sein. Das war nicht seine Art. Tom war anders. Aber kannte sie Tom wirklich? Hatte sie sein
echtes
Gesicht gesehen? Damals? Oder war da noch mehr?
Obwohl ihr heiß war, bekam sie eine Gänsehaut. Aber er hatte Lilly doch geliebt. Sie war
seine
Lillian. Nie würde er ihr etwas antun. Das würde er nicht.
Tatsächlich? Dann mach dir doch keine Gedanken. Aber wirklich sicher scheinst du dir nicht zu sein, oder?
Alex’ Antwort kam zögerlich. »Lilly ist Ihnen nachgelaufen. Kurz nachdem Sie gegangen sind. Vielleicht hat sie es sich noch mal anders überlegt? Sie hat Patrick getroffen und wollte mit ihm vor dem Kino noch ein Eis essen gehen. Sie ist Ihnen hinterher, um Bescheid zu sagen. Vielleicht ist sie aber auch direkt gegangen?«
Nein
, dachte Michelle,
nicht Lilly
. Sie würde nie einfach irgendwohin gehen, ohne etwas zu sagen. Nicht ihre kleine Tochter.
Etwas im Hintergrund knallte, und Alex gab ein unterdrücktes Quietschen von sich.
Michelle ignorierte es. »Hat Patrick einen Nachnamen? Eine Nummer? Irgendetwas, womit ich ihn erreichen kann?«
»Ich kenne ihn nicht so gut. Ich mein, ich häng mit ihm öfter rum und so, aber viel weiß ich nicht über ihn. Das meiste über ihn weiß ich durch Lilly. Ich glaube, sie mag ihn. Tut mir leid, wenn ich Ihnen nicht helfen kann.
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