Paperweight: Literarische Snacks (German Edition)
in den Ruin treiben. Sollten wir es wagen, diese Seelchen durch normale Menschen zu ersetzen, graut mir vor den möglichen Folgen. Ich weiß, wenn ich mit meinem Wolseley durch Cambridge führe und zufällig mitbekäme, wie ein Anwalt oder eine Hausfrau über die Moral unseres Gemeinwesens oder die Kleinfamilie spräche, würde ich wahrscheinlich stracks auf den Bürgersteig zuhalten und auf der Stelle ein Dutzend Kleinfamilien massakrieren.
Nein, nein, es ist zu gefährlich. Sollen die Irren weiterhin ihre Briefe schreiben, und sollen die Personen des öffentlichen Lebens weiterhin das große Wort führen. Ich muß jetzt wieder an London übergeben und Sie mit diesem öffentlichen Irren allein lassen. Bitte, Nedwin.
Trefusis geht in den Norden
Zur Zeit der Ausstrahlung war gerade das »Nord-Süd-Gefälle« in aller Munde. Nach einer Reise in den Norden denkt Trefusis darüber nach:
Hallo. Sie stutzen vielleicht, weil ich Sie mit »Hallo« statt mit »Guten Morgen« begrüße; das war ein Tip von dem jungschen Alistair Cooke, denn bei der BBC weiß man ja schließlich nie, wann man vielleicht wiederholt wird. DerWorld Service zum Beispiel könnte beschließen, mich abends in Simbabwe auszustrahlen oder um Mitternacht auf Malakka. Als Radiosprecher müssen wir uns gegen solche Eventualitäten wappnen, und deswegen sagen wir »Hallo«. Beachten Sie, daß ich nicht »Hallo Ihnen allen« sage, denn es ist durchaus denkbar, wenn auch unwahrscheinlich, daß nicht alle zuhören. Auch sage ich nicht »Hallo, meine liebsten Schätze« für den Fall, daß jemand unter Ihnen dies hinterm Steuer hört, denn es wäre ja ein leichtes, infolge einer so schamlos aufreizenden Anmache von der Straße abzukommen. Also »Hallo« Ihnen da draußen.
Heute möchte ich mich einem völlig fiktiven Thema widmen, will sagen, ich wende mich etwas zu, was es gar nicht gibt. In meiner Eigenschaft als Saussurescher Gastdozent an der Universität von – nun, ich soll hier ja keine Schleichwerbung betreiben, nennen wir sie also die Universität von North Yorkshire – hatte ich diese Woche Anlaß, eine große Stadt im Norden zu besuchen, um dort einen Vortrag über mauritianische Dialekte im Verhältnis zu aphatischen Zeichensystemen Melanesiens zu halten. Da ich zuvor nie weiter nach Norden vorgedrungen war als bis King’s Lynn, machte ich mich mit einiger Beklommenheit auf den Weg. Ich hatte gedacht, mir ein paar Tage frei zu nehmen und Leeds, Bradford und Barnsley zu besuchen und sogar über die Kette der Pennines nach Westen vorzustoßen und mal in Manchester und Liverpool vorbeizuschneien. Eins jedenfalls war mir klar, so etwas wie ein Nord-Süd-Gefälle gibt es überhaupt nicht. Das stand so im ›Daily Telegraph‹, und die ›Mail‹ und der ›Express‹ haben es auch geschrieben. Gibt es einfach nicht. Ich nehme also an, es ist bloßer Zufall, daß Städte im Norden ganze Paraden von brettervernagelten Ladenlokalen haben und Straßen, wo die Einwohner, statt vor Wohlstand zu vibrieren, mürrisch an den Straßenecken herumlungern und nichtszu tun haben. Bloßer Zufall, daß die Geschäfte halbleere Regale haben, daß die einzigen gutgefüllten Läden auf den Hauptstraßen die Wettbüros sind. Bloßer Zufall, daß der Norden nach Armut, Benachteiligung und Verzweiflung müffelt, wo so viele Städte im Süden nach Luxus, Reichtum und Zuversicht duften. Bloßer Zufall, daß eine Schülergruppe aus Eton als Teil irgendeines Oberschulkurses in Sozial- und Stadtgeschichte neulich Newcastle besuchte und daß diese Geschichte es abends in die Fernsehnachrichten schaffte. Ich bin fürwahr kein Skeptiker, aber den ›Telegraph‹, den der Senior Combination Room an meinem College sich weiterhin halten will, werde ich in Zukunft mit etwas mehr Vorsicht genießen.
Soll ich jetzt nach einem so kurzen Blick auf den Norden Sentimentalitäten über ihn verbreiten? Habe ich seine Menschen freundlicher, höflicher, einfacher, direkter, kerniger und wahrhaftiger gefunden? Zum Glück kann ich das nicht behaupten. Einige neigten zur Liebenswürdigkeit, andere bedachten mich mit Blicken so abgrundtiefer Verachtung, daß sie meine Brillengläser fast zum Schmelzen brachten. Die meisten Bewohner kamen mir wie ganz normale Menschen vor. Andere kamen mir mit ihren Schlägen zuvor. Sie sind auch nur aus Fleisch und Blut, wie kann ich ihnen Vorwürfe machen? Ein komischer alter Schißhase, der verloren durch ihre Straßen streifte und dessen Tweed,
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