Paperweight: Literarische Snacks (German Edition)
Zeitalter der Handkameras hineingeboren wurden. Das Subjekt auf dem Bildschirm ist nicht das des Betrachters. Man ist dezentriert worden. Man verfügt auf einmal über ein anderes Ich, das sich bewegen, denken, sprechen und andere rühren kann, über das man selbst jedoch keine Kontrolle hat. Das ist ein tief empfundener Alptraum und erklärt zu einem gut Teil die neurotischen Identitätskrisen, die unser Jahrhundert charakterisieren.
Für einige wenige Männer und Frauen, die – in Anthony Burgess’ hübscher Formulierung – »unabsichtlich mit irrelevanter Photogenität begabt« sind, zahlt sich das aus, da sie eine Karriere daraus machen können, auf Bildschirmen gesehen zu werden. Sie verstehen sich darauf und werden für den himmelschreienden Wahnsinn, zu dem dieser Prozeß unweigerlich führt, anständig bezahlt. Aber die ganze Menschheit zu ermuntern, das Atom des Ichs zu teilen, isteinfach tollkühn. Außerdem bin ich als Mitglied der Schauspielergewerkschaft keineswegs sicher, ob mir der Gedanke behagt, jeder könnte plötzlich mitmachen wollen.
Der Fluch der Familie
Ich möchte Ihre Zeit nicht damit verschwenden, diese kostbare Seite, immerhin ein ordentliches Scheibchen kanadischer Fichte, einer Diskussion von Paragraph 28 oder 29 oder 30 zu widmen, oder welche Nummer er gerade trägt. Sie sind ein anständiger Mensch: Sie sind genauso empört wie ich, in einem Land zu leben, das imstande ist, seine Gesetzbücher mit einer derart boshaften, widerlichen und ekelerregenden Sammlung von Heuchelei und Lügen zu besudeln. Dieser ganze Wahnsinn darf weder ignoriert noch vergessen werden, aber ich möchte mich weniger über etwas Bestimmtes beklagen als Sie vielmehr daran erinnern, daß Tenor und Stoßrichtung der Legislatur (falls dieser dem Epizentrum von Satans Analrosette entnommene schleimige Abstrich einen so würdigen Namen verdient haben sollte) darin bestehen, die Propagierung von Homosexualität als akzeptabler Alternative zum Familienleben zu kriminalisieren. Familienleben, Familienwerte, anständige Normalfamilie, Familienspaß, Familieneinkauf, Familienfreizeit. Das Wort wird heute gerade so gebraucht wie das Wort »Arier« im Deutschland der dreißiger Jahre. Alles, was nicht für die Familie ist, ist gegen die Familie, und was gegen die Familie ist, repräsentiert nicht die fröhliche Mehrheit. Die gnadenlose Verdammung von Nichtfamilienwerten ist folglich ein demokratisches Muß für jeden Populisten.
Ein jiddisches Sprichwort lautet: »Familie ist gut, aberböse mußte mit ihr sein.« Was ist bloß mit uns los, daß dieses Wort sich auf einmal in ein prachtvolles Banner verwandelt, das uns über Stock und Stein in ein neues goldenes Zeitalter führen soll? Es kann doch wohl kaum als Mittel gegen die ansteigende Kriminalitätsrate gemeint sein. Schließlich haben rund achtzig Prozent aller Morde familiäre Ursachen; Kindesmißhandlung und sexueller Mißbrauch sind nahezu ausschließlich Verbrechen im Kreise der Familie, und meines Wissens gibt es nur einen aktenkundigen Fall von Inzest, der außerhalb einer Familie praktiziert wurde, und da stellte sich am Ende heraus, daß es gar kein Inzest war.
Ich glaube, wenn wir in unserem Land die Gedankenkontrolle einführen wollen, und genau das scheint unseren weisen, liebevollen und mitfühlenden Landesvätern am Herzen zu liegen, dann wäre eine Gesetzesvorlage, die die Propagierung des Familienlebens unter Strafe stellt, an der Zeit, wenn nicht gar überfällig.
Auf BBC 2 gibt es eine Sendung namens
Weekend
, deren Niedertracht sich kaum in Worte fassen läßt. Wie jede »Familien«-Sendung, ob sie nun von Noel Edmonds oder Frank Bough moderiert wird, scheint sie dem unvoreingenommenen Betrachter zunächst nicht mehr als eine abstoßende Lobpreisung von Pringle-Wollklamotten, mit Anflügen einer Fred-Perry-Freizeithemdenparade. Wenn es denn nur etwas so Unschuldiges wäre. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Apotheose der Familie. Absicht der Serie – auf den ersten Blick harmlos, ja sogar lobenswert – ist es, Informationen über Wochenendveranstaltungen im ganzen Lande, oder »UK«, wie es hier genannt wird, zu bieten. Das Grausige an der Angelegenheit besteht darin, daß eine »typische Familie« ausgewählt wird, die etwas »Freizeitaktivität« bei einem der unzähligen »glücklichen Freilichtamüsiermuseen«, »Familienspaßzentren«oder »erlebnisbadespaßorientierten Spaßglückfreizeithappys« entfalten soll, die
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