Paperweight: Literarische Snacks (German Edition)
London ein weiteres Geländer auf dieselbe Weise gestrichen worden ist, doch ist dies höchst unwahrscheinlich.«
»Bemerkenswert, bemerkenswert. Ein erstklassiges Spiel! Und sonst, Sir? Und sonst?«
»Ich fürchte«, sagte Holmes, »darüber hinaus ist wenig zu sagen.«
»Oh, ich habe schließlich soeben meine Abendgarderobe angelegt. Das überdeckt alle weiteren Anhaltspunkte, kann ich mir vorstellen.«
»Abgesehen von den offenkundigen Tatsachen, daß Sie Schriftsteller sind, daß Sie in Ihrer Kindheit Entbehrungen erlitten haben, daß Sie Ihr Geld nicht mehr ganz so leicht verdienen wie früher und daß Sie eine Schwäche für Zaubertricks haben, ist gewißlich sehr wenig zu erkennen«, sagte Holmes.
Unser Besucher fuhr hoch. »Sie kennen mich also! Mir einen solchen Streich zu spielen, Sir, meiner Treu! Das ist Ihrer unwürdig.«
»Behalten Sie Platz, ich bitte Sie«, sagte Holmes, »ich bin Ihnen noch nie begegnet. Wenn ich einen Mann mit einer so deutlichen Vertiefung an der Innenseite seines Mittelfingers sehe, ist doch wohl unschwer anzunehmen, daß er Schriftsteller ist.«
»Ein Buchhalter! Ich könnte in einer Kanzlei arbeiten!«
»In Stiefeln von Lobb? Ich glaube kaum.«
»Hm, und die Entbehrungen?«
»Ihr Gesicht ist über Ihre Jahre hinaus durchfurcht, aber nicht, wie ich sehe, von der Kümmernis, die Sie herführt; die ist zu frisch, um sich schon Ihrer Stirn eingeschrieben haben zu können. Ich kenne derlei Zeichen nur von jenen, die im Wissen um Elend und Mangel aufwuchsen.«
»Nur zu wahr, Mr Holmes – aber das Geld, die Zauberkunststücke?«
»Diese eleganten Stiefel, dünkt mich, wurden vor etwa drei oder vier Jahren angefertigt. Ihr exzellent geschnittener Mantel stammt ebenfalls aus dieser Zeit. Der plötzlich erblühende Wohlstand, von dem ihr Erwerb zeugt, ist also ein wenig in die Vergangenheit entschwunden. Was das Zaubern angeht, so ist Ihnen, Watson, gewiß der kleine fleischfarbene Metallkegel aufgefallen, der ein Stück aus der Westentasche unseres Besuchers hervorragt? Man nennt dies eine Daumenkappe: ein unerläßlicher Bestandteil der Ausrüstung eines jeden Magiers.«
»Bravo, Mr Holmes!« rief unser Gast und spendete kraftvoll Beifall. »Bravo, mein Bester!«
»Ein roher Test.«
»Und ein gesundes neues Jahr, mein lieber Sir. Ein roher Test und ein gesundes neues Jahr! Oje«, sagte er, und seine Lebensgeister schwanden wieder, »Sie lenken mich richtig ab vom Zweck dieses Besuchs. Welch eine Kalamität, Mr Holmes. Welch fürchterliche Kalamität. Ich bin ganz außer mir!«
»Ich bin ganz Ohr, Mr –?«
»Oh! Mein Name? Ja. Äh, Bosney, Culliford Bosney, Romancier. Sie haben vielleicht von mir gehört?« Erwartungsvoll überflog er unsere Bücherregale.
»Ich fürchte, Mr Bosney, daß ich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht viel Zeit für Romane habe. Für die Literatur ist Dr Watson zuständig.«
Culliford Bosney richtete seinen lebhaften Blick auf mich. »Ach ja, Dr Watson – natürlich. Ich habe Ihre Werke mit großem Interesse gelesen. Ich bitte Sie, nehmen Sie die Komplimente eines Kollegen der schreibenden Zunft entgegen.«
»Danke sehr«, sagte ich. »Ich fürchte, Mr Holmes teiltIhre wohlwollende Einschätzung meiner Bemühungen nicht.«
»Unsinn, Watson! Als exotische Romanzen sind sie eine Klasse für sich«, versetzte Holmes und stopfte seine Bruyère-Pfeife.
»Sehen Sie, wogegen ich mich zu behaupten habe, Mr Bosney?« sagte ich mit bedauernder Miene.
»Ach, Dr Watson!« antwortete er und kehrte auf bemitleidenswerte Weise zu seinem früheren Weh zurück. »Sie werden mein Elend verstehen, wenn ich Ihnen sage, daß es verloren ist! Es ist verloren, und ich bin mit meinem Latein am Ende!«
»Was ist verloren?« fragte ich bestürzt.
»Das Manuskript natürlich! Es ist verloren, und ich bin sicher, daß ich vor lauter Sorgen deswegen den Verstand verlieren werde.«
»Ich denke«, sagte Holmes und lehnte sich in seinem Sessel zurück, »Sie sollten uns besser mit allen Fakten Ihrer Erzählung vertraut machen, Mr Bosney.«
»Natürlich, Mr Holmes. Ohne das geringste auszulassen, so trivial es auch scheinen mag, ja?«
»Ganz recht.«
»Nun, Sie müssen wissen, daß ich mich seit jetzt über sechs Wochen mit dem Manuskript einer Geschichte geplagt habe. Heute sollte ich sie bei meinem Verleger abliefern – er muß sie unbedingt innerhalb der nächsten Woche veröffentlichen, sehen Sie, denn sie hat ein weihnachtliches Thema. Ich setze große
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