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Paperweight: Literarische Snacks (German Edition)

Paperweight: Literarische Snacks (German Edition)

Titel: Paperweight: Literarische Snacks (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Fry
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andere. »Sonst habe ich ein ausgezeichnetes Gedächtnis für Gesichter, aber dieser Mann war gegen die Kälte so eingehüllt, daß ich keine Gelegenheit bekam, seine Züge zu mustern. Seiner Stimme nach habe ich den Eindruck, daß es ein junger Mann war, aber ich mag mich irren. Außerdem –«
    »Ja?«
    »Na ja, vielleicht bilde ich es mir bloß ein, aber ich könnte schwören, daß ich, als die Droschke von mir fortrasselte, ein Lachen gehört habe. Ich habe es den Medizinstudenten zugeschrieben, die unlängst in die der meinen benachbarte Wohnung eingezogen sind und die sich günstigstenfalls ungebärdig benehmen, aber wenn ich es mir jetzt überlege, bin ich sicher, es kam vom Kutscher selbst! Was kann das bedeuten, Mr Holmes?«
    »Ein Lachen, sagen Sie? Also, das ist wirklich höchst aufschlußreich.« Holmes erhob sich und begann, durchs Zimmer zu schreiten. »Sie haben Studenten erwähnt, Mr Bosney, was haben Sie sonst für Nachbarn?«
    »Größtenteils sind wir eine ruhige Gesellschaft – vor allem Anwälte und Börsenmakler. Die Straße liegt günstig, sowohl zu den Inns of Court als auch zur City. Ich habe allerdings zu keinem meiner Nachbarn ein sonderlich inniges Verhältnis. Colonel Harker, dessen Haus an das meine grenzt, ist kürzlich aus Indien zurückgekehrt undhat sich für seinen Haushalt von dort Personal mitgebracht, das er in ungezügeltem Jähzorn anbrüllt. Ich glaube nicht, daß ich jemals mehr als zwei Worte mit ihm gewechselt habe. Über Weihnachten ist er ohnehin nach Hampshire gefahren, ich kann mir daher nicht vorstellen, daß er mit dieser Angelegenheit irgend zu tun hat.«
    »Nun, Mr Bosney«, sagte Holmes und knöpfte sein Cape zu, »ich werde mir dieses kleine Problem für Sie einmal anschauen.«
    »Vielen Dank, Mr Holmes!«
    »Kommen Sie, Watson, begeben wir uns alle nach Gray’s Inn und sehen wir, was wir dort entdecken können.«
     
***
     
    Während wir drei durch die dunklen Londoner Straßen kutschiert wurden, betrachteten Sherlock Holmes und Culliford Bosney durch das Fenster die nebelverhüllten Straßen und Gassen der Metropole, ersterer durchdringend, letzterer mit komischer Besorgnis. Holmes, der heftig an seiner beißendsten Shagmischung zog, nahm die Straßennamen zur Kenntnis, derweil wir die Euston Road hinabflogen. Ich habe schon früher dargetan, daß er über profunde Kenntnis der Straßen Londons verfügte, von den niedrigsten und abstoßendsten Gassen im Osten bis hin zu den breitesten und modischsten Plätzen und Promenaden im Westen. Mit Erstaunen vermerkte ich, daß auch Mr Bosney genaue Bekanntschaft mit der Hauptstadt hatte. Die beiden unterhielten sich begeistert über ihre Liebe zu der großen Stadt, wobei Bosney es sogar verstand, Holmes gelegentlich mit einem obskuren Fragment aus der Geschichte oder einer örtlichen Anekdote zu überraschen.
    »Ja wirklich, Mr Holmes!« rief er, »London lebt, glauben Sie mir. Jeder Einwohner gleicht einer Zelle des großen Organismus und ist mit jeder anderen verbunden. Der geringsteSchankkellner in Limehouse und der bedeutendste Herzog am Grosvenor Square sind aufeinander angewiesen und erhalten sich gegenseitig am Leben! Sie denken vielleicht, ich übertreibe?«
    »Ganz und gar nicht, Sir«, erwiderte Holmes, »ein Großteil meiner Arbeit beruht auf dieser Tatsache. Was ist ein Verbrechen anderes als eine Krankheit? Meine Arbeit ist größtenteils diagnostischer Natur: so wie Watson Eisenmangel an einem geschwollenen Ellenbogen erkennen mag, so kann ich vielleicht einen Vorstadtmord an einem abgeschabten Ärmel ablesen. Ein Todesfall in Houndsditch mag die Einwohner von Belgravia ungerührt lassen, aber sie mißverstehen die Angelegenheit, wenn sie sich für unbeteiligt halten.«
    »Mr Holmes, Sie sind ein Mann nach meinem Geschmack«, sagte Bosney warmherzig. »Und ist dies nicht die Jahreszeit für derlei Überlegungen?«
    »Was das betrifft«, sagte Holmes und warf mir einen schelmischen Seitenblick zu, »so muß ich gestehen, daß mit dem Wetter einerseits und den falschen Artigkeiten andererseits Weihnachten mich ziemlich kaltläßt.«
    »Aber dann«, entgegnete der andere mit einiger Überraschung, »sind Sie ja der perfekte – ah, hier ist Gray’s Inn. Sehen Sie, inzwischen hat man Schilder aufgestellt, die die Unachtsamen vor der frischen Farbe des Gitters warnen. Hallo, Tom!« Die letzte Bemerkung galt einem jungen Straßenkehrer, der diensteifrig herangetreten war, um uns, als wir anhielten, die Tür

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