Papierkrieg
sauren Apfel und begann damit, gründlich
aufzuräumen. Es ging mir zwar nicht allzu leicht von der Hand, aber es war auch
keine unüberwindliche Qual. Als ich schließlich ans Einordnen meiner Blätter
kam, stieg Stolz in mir hoch. Stolz auf meinen nicht für möglich gehaltenen
Ordnungssinn und meine intellektuelle Reife. Ich hatte doch tatsächlich über 90
Prozent meiner Zettel mit einer Seitenzahl und Bandnamen beschriftet, sodass es
keine Probleme verursachte, sie zuzuordnen. Ich hatte mich bereits gesehen, wie
ich monatelang Buch um Buch durchblättern würde, um auf Verdacht hin einzuordnen.
Aber ich war schlauer gewesen, als ich mir selber zugetraut hatte. Den
wichtigsten Teil hatte ich schnell eingelegt, den unwichtigeren Rest würde ich
irgendwann erledigen, wenn ich die Zeit dazu hätte.
Jetzt würde ich mich belohnen. Ich holte mir meinen Sophokles aus
dem Regal und begann zu lesen. Zuerst war ich mir nicht sicher, ob ich von Ajax
und seinem schlimmen Verhängnis lesen sollte oder von den Trachinierinnen und
dem Tod des Herakles. Ich war in düsterer Stimmung und beides schien passend. Wie
so oft im Leben aber gab eine Kleinigkeit den Ausschlag, denn zum ersten Mal
wurde mir der Eröffnungssatz der Trachinierinnen so richtig bewusst. Er schien
meine Situation zu treffen wie die Faust das Auge: »Unter den Menschen geht
seit alters her der Spruch, dass vor dem Tod sich nicht entscheiden lässt, ob
gut, ob schlecht ein Leben war.« Ich vergrub mich in Sophokles’ gemessener
Sprache und genoss den Fortgang der Tragödie, bis ich auf die Uhr blickte und
feststellte, dass es Zeit war, ein wenig dafür zu sorgen, dass mein Leben nach
seinem Abschluss als positiv beurteilt werden könnte. Also rief ich Reichi an.
»Hi«, begrüßte er mich, »dachte schon, dass du unter die Räder
gekommen wärst.«
»Na ja, fast. Deswegen ruf ich auch an.«
»Denk ich mir doch, dass es nicht aus selbstloser Sorge um deine
Mitmenschen ist.«
»Also, Jurist, sag mir, wenn man als Verdächtiger, der sowieso
bereits einen schlechten Eindruck macht, am Tatort eines Mordes verhaftet wird,
was ist da die übliche Vorgehensweise?«
»Sag bloß, dass du gerade vor einer Leiche stehst. Dann lass dich
nicht erwischen, hau ab, so schnell es geht. Und danke, dass du mich auch noch
da mit reinziehst.« Reichi klang ernsthaft besorgt und ein wenig böse.
»Nein, nein, reg dich ab. So ist es nicht.«
»Gott sei Dank.« Er dachte einen Moment nach.
»Wenn du vorhast, so was durchzuziehen, kann ich nur abraten. Besser, du kommst
mit dem Gesetz nicht in Berührung. Österreich ist zwar ein Rechtsstaat, aber
was für einer! Da haben sie mal ein chinesisches Ehepaar eineinhalb Jahre in
U-Haft gehabt …«
»Ja, ja, hast du mir schon öfter erzählt. Die Geschichte mit den
Austauschstudenten, bei der ein Konkurrent auf Schlepperei und Menschenhandel
angezeigt hat.«
»Genau. Eineinhalb Jahre Häfn ohne Verfahren! Vergiss den Gedanken,
dich an einem Tatort erwischen zu lassen.«
»Zu spät. Ist passiert.«
»Wie meinen?«
»Naja, am Wochenende.«
»Kein Scheiß?«
»Nein, sicher. Hast du’s nicht gelesen? Mord an einem Kunsthändler
im 15., Verdächtiger mit meinen Initialen abgeführt. Das wird dir doch nicht
entgangen sein.«
»Ich les so was immer, darum kann ich sagen, das ist in keiner
Zeitung gestanden. Erst recht nicht am Wochenende, da les ich alle. Hab da
einen guten Kontakt, krieg sie alle gratis.«
»Du klaust sie einfach aus dem Zeitungsständer.«
Reichi kicherte vergnügt und kam postwendend zurück aufs Thema.
»Sie haben dich also verhaftet. Wow. Rufst du aus dem Knast an? Ich kann dich
nicht vertreten, hab noch keine Anwaltsprüfung und bei einem Strafverfahren ist
nicht zu spaßen.«
»Nein, ich bin schon wieder heraußen, drum ruf ich ja an.«
»Glaub ich jetzt nicht. Ist der Täter geschnappt?«
»Nein.«
»Dann solltest du, egal, was du schluckst, weniger davon nehmen.
Du hast Halluzinationen.«
»Nein, eine Anwältin hat mich rausgeholt. Drum will ich dich ja
fragen, wenn du mich einmal ausreden ließest. Sie sagt, sie musste keine
Kaution stellen, weil momentan alle nervös sind bei Exekutive und Justiz, und
außerdem kennt sie den Staatsanwalt persönlich. Kann das sein?«
»Niemals. Nur mit Vitamin B kommt keiner aus dem Knast, und weder
Justiz noch Polizei sind nervös. Wir haben einen schwarzen Innenminister …«
»Innenministerin.«
»Genau, und
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