Papierkuesse
verstehen, dass ich diesmal dem Pila viel länger schreibe als Dir, denn dieser Brief ist ja mein Geschenk. Dazu noch die Zeichnungen. Damit Du aber nicht zu kurz kommst und Deinen Papa nicht vergisst, kriegst Du auch einen kleinen Papa von mir. Und jetzt sei tausendmal geküsst von Deinem Papa
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Bln. Plötzensee, den 28. 6. 1942
Haus III
Liebster Palipila!
Gestern war also Dein Geburtstag – und ich war in Liebe bei Dir. Ich habe einen kleinen Kranz aus gelben Blumen geflochten und auf Dein Bild gehängt. Es schien Dir gefallen zu haben, denn Dein lachendes Bild grinste mehr als sonst zufrieden zu mir herüber. Muttis Bild, für das ich Euch danke, stand auch dabei. Das ist jetzt also auch vorbei – und morgen, den 29. 6., haben wir beide Namenstag! Na denn Prosit!
Kommen wir nun zur »Sache«. In meinem letzten Brief sagte ich Dir schon: über dieses Thema werden wir uns noch oft sprechen. Dein Brief vom 18. 6. stößt mitten hinein in ein brennendes Problem. Du sagst:
»Ich will die Stufen aufwärts gehen; wo der Weg aber waagerecht wird, dort will ich aufhören, denn dort beginnt das Eintönige, dort hört der Sinn auf.« Ist dies denn eine »Wahrheit«?, frage ich Dich. Zeigt das Leben irgendwo solches Bild? Was sehen wir um uns genau wie in uns? Etwa Stillstand? Ein erreichtes »Oben« irgendwo!? Wie eine Riesenwelle geht das Leben seinen Weg. Aus der Vergangenheit über die Gegenwart schreitet es der Zukunft zu. Die Pflanze hat Knospe, Blüte, Frucht und Tod, um wieder zu knospen, und ist das Sinnbild des ewigen Rhythmus von »gewesen«, »sein« und »werden«. Solange die Triebkraft des Wachstums die Pflanze beseelt, kann Knospe zu Blüte sich formen, kann zur Frucht sich steigern – aber nieals solche stehen bleiben wie Deine waagerechte Ebene. Sondern hier reißt die steigende Linie ab, und es folgt das Fallen, es naht der Tod. Ich weiß, wie in Deiner Vorstellung das Bild des »oben« angelangten entstand und Deine Absicht von dort zu fliehen. In einem Beispiel will ich’s zeigen. Nehmen wir den Kinderarzt Dr. zur Linden. Er wird Kinderarzt, weil er Kinder liebt und weil er sie interessanter findet als Erwachsene. Er studiert also, wird Arzt, lässt sich nieder, kriegt eine große Praxis, dann viel Erfahrungen und zuletzt den Ruf, ein guter Kinderarzt zu sein. Du siehst nun mit Schrecken: wie sieht der Tag dieses Mannes heute aus? Zungen angucken, Fieber messen, Einlauf verordnen, Masern feststellen und hie und da als Abwechslung auch noch die Ehre sich gründlich zu irren! Da sagst Du Dir also: »Ja den Weg bis zu den Erkenntnissen und Erfahrungen des Arztes will ich mitmachen, aber fliehen will ich vor dem Stillstand dieses Alltags«. Hier aber sage ich erstmals »stopp«! Was hat dieser Mann denn erreicht? Einen guten Verdienst? den erreicht auch die Gänseausschlächterei. Hat er die Grenze seines ärztlichen Könnens erreicht? Vielleicht!! aber dann wehe ihm!! Wehe dem, dessen Ende in jenem Alltagstrott liegt, wo das, was Frucht durchwachter Nächte des Suchers war, zur Handhabung der täglichen Praxis wird!! »Herr Doktor!! Warum sterben täglich Kinder an Masern, an Scharlach, an Diphtherie mit und ohne ihre Hilfe?? Wie können Sie leben, wie können Sie schlafen, ohne den Kampf gegen die Feinde des Lebens als Forscher, als Sucher aufgenommen zu haben?? Glauben Sie mir, Herr Doktor, esgibt Ärzte, die keine Nacht schlafen, die ihr müdes Auge noch ans Mikroskop heften, während schon ein tötendes Fieber ihren Leib durchschauert!! Was sind Sie im Vergleich zu jenen Helden, jenen Berufenen? Ein armer Teufel auf dem absteigenden Ast! Ein Handwerker diesseits der Größe.« – Den »Stillstand auf der Waagerechten« gibt es also nicht, es gibt nur den Fall abwärts, den Fall des Vogels mit geknickten Schwingen. Ein »Oben« aber gibt es noch weniger, oder meinst Du, es gilt der Ausruf: »Es ist vollbracht!«? Gibt es den Dichter mit dem »vollendeten« Gedicht? Den Maler mit der gottähnlichen Farbharmonie, von wo es kein »weiter« gibt? Wo ist der Architekt, der das Raumproblem »gelöst«, der Arzt der die Krankheit »besiegt« hat? Wo der Erzieher, der für die »vollendete« Generation bürgt? Solange es also unbeantwortete Fragen auf jedem Weg gibt, solange gibt es kein Endziel, das der Sterbliche erreicht! Wenn einer aber sagt: »Herr ich kann nicht weiter, hier ist die Grenze meines Ichs, die Schranke meiner Fähigkeiten« – so ist die
Schwungkraft
in diesem
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