Papierkuesse
von überkommenen Erziehungsvorstellungen leiten, sondern experimentierte mit alternativen Lebensstilen und Leitbildern. Rührende Liebesbeweise und tränenreiche Versöhnungen gehörten zum Repertoire einer emotionsgeladenen und unkonventionellen Pädagogik. Doch Pali liebte nicht nur seine Kinder, sondern auch das Bohemeleben.Gerne brachte er spätnachts eine Geliebte mit nach Hause. Um sie seiner neusten Freundin vorzustellen, weckte er manchmal die Kinder und ließ sie schlaftrunken kleine Kunststücke aufführen. Der empfindsame und musische Paul war ein eher unsportlicher Junge, der gerne las und sich schon früh an eigenen Gedichten versuchte. Seine temperamentvolle Schwester Barbara sollte wie ihre Mutter Tänzerin werden und erhielt seit ihrem vierten Lebensjahr Unterricht in der Akrobatikschule Kuhn (Abb. 15) und der Ballettschule von Tatjana Gsovsky, einer der berühmtesten Tanzpädagoginnen und Choreografinnen ihrer Zeit.
Auch wenn sich Palis jüdische Abstammung zunächst noch hinter seiner katholischen Ehe verbergen ließ, tanzte er im Berlin der Dreißigerjahre auf einem Vulkan und ging mit jeder Beziehung zu einer »arischen« Frau ein hohes Risiko ein. Denn seit dem »Blutschutzgesetz« von 1935 war nicht nur die Eheschließung, sondern auch der außereheliche Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden verboten. Verstöße gegen das Gesetz wurden als Rassenschande bezeichnet und mit Gefängnis oder Zuchthaus bedroht.
Um seinen Unterhalt als Architekt weiter verdienen zu können, hätte Pali nach dem 1933 erlassenen Gesetz Mitglied in der Reichskulturkammer werden müssen, was einen arischen Herkunftsnachweis voraussetzte. Tatsächlich wurde er erst 1937 mit Hilfe eines gefälschten Nachweises und auf Empfehlung Bartnings in die Reichskammer der bildenden Künste, Fachgruppe Architektur, aufgenommen (s. S. 94 f.), wobei er den seit dem 15. 12. 1933 ausstehenden Mitgliedsbeitrag von 93,75 Reichsmarkauf Heller und Pfennig erstatten musste. Den gefälschten Nachweis, für den er neben der eigenen Geburts- bzw. Taufurkunde noch die sechs Urkunden der Eltern und Großeltern vorlegen musste, hatte Pali mit Hilfe seiner Schwester Edith erbracht (s. S. 93). Nachdem er bereits im Vorjahr aus der jüdischen Gemeinde in Ödenburg ausgetreten war, hatte Edith die mit protestantischen Konfessionsangaben gefälschten und auf den eingedeutschten Vornamen Paul lautenden Dokumente aus dem Verkauf ihres Soproner Sommerhauses finanziert.
Zwar konnte sich Pali damit im Berliner Machtzentrum wie im Auge des Wirbelsturms in trügerischer Sicherheit wiegen. Doch wie musste er die »Reichskristallnacht« im November 1938 erlebt haben, in der die Berliner Synagogen, jüdischen Geschäfte, Wohnungen, Gemeindehäuser und Friedhofskapellen brannten?
Den Kriegsbeginn erlebten Pali und die Kinder beim Großvater in Sopron, wo sie zum letzten Mal ihre Sommerferien im Landhaus der Familie Meller zusammen mit der ungarischen Verwandtschaft verbrachten. Die Situation in Deutschland ließ es ratsam erscheinen, dass die Kinder nicht nach Berlin zurückkehrten, sondern zur Großmutter Colpa nach Den Haag weiterreisten. Hier verlebten sie das kommende halbe Jahr in Begleitung von Franziska Schmitt und lernten Holländisch, bis sie im Frühjahr 1940 wieder nach Berlin zurückkehrten, weil das Visum der Haushälterin abgelaufen war.
Im ersten Kriegswinter 1939 lernte Pali Edith Gruber, geborene Stübs, kennen, die seit einem Jahr von ihrem Mann getrennt lebte. Aus der Bekanntschaft entwickelte sich eine feste Bindung, so dass Edith im Sommer 1940zu Pali und seinen Kindern zog. Woran die eheähnliche Verbindung ein Jahr später wieder zerbrach, ist unbekannt. Sicher ist aber, dass Pali sein Bedürfnis nach weiblicher Nähe zum Verhängnis wurde. Die Frage, ob ein Geschehnis »selbstverschuldet oder schicksalhaft« sei, wird später wie ein dunkler Schatten in seinen Briefen auftauchen.
In dieser Zeit hatte Pali Meller auch Marlene Moeschke-Poelzig, die Witwe des 1936 verstorbenen Architekten Hans Poelzig, kennengelernt, die mit ihren drei Kindern 1940 in die Hölderlinstraße 11 direkt in seine Nachbarschaft gezogen war. Die große Altbauwohnung der Poelzigs war ein liberaler und weltoffener Treffpunkt, wo sich auch Widerstandskämpfer wie Harro Schulze-Boysen, Horst Heilmann und Albrecht Haushofer sicher fühlen konnten. Pali und seine beiden Kinder kamen gern und oft zu Besuch, auch wenn Marlene, Alexander und Angelika um
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