Papierkuesse
unseres Bekannten habe ich immer noch nicht erfahren können. Da er jedoch nun nach Moabit hinauskommt, ist zu rechnen, dass die Sache noch länger dauert. Offenbar will man ihm nichtarische Abstammung anhängen, was ich väterlicherseits für ausgeschlossen halte nach dem, was ich persönlich aus seinen Erzählungen über seinen Vater weiss. Falls er es jedoch mütterlicherseits doch sein sollte, könnte sich jemand, der sich für ihn hier ins Zeug setzt u. U. die Finger verbrennen, man müsste deshalb vorher wissen, was und wieviel gegen ihn vorliegt. Das werden wir jedoch wohl in absehbarer Zeit herauskriegen. Zu helfen dürfte ihm deshalb nur sein
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und das wäre höchst wichtig
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wenn jemand, der zu seinem Vater fährt (Adresse ist Ödenburg, Dr. M., das genügt) mit ihm die Angelegenheit bespricht und dafür sorgt, dass er seinerseits sein Möglichstes tut, insbes. seinen eigenen arischen Nachweis sich schnellstens beschafft, damit sodann seinem Sohn geholfen werden kann.
Von wem Pali Meller als Jude denunziert worden ist, geht aus der Anklageschrift nicht hervor, in der ihm Urkundenfälschung und »Rassenschande« zur Last gelegt werden. Dass die Denunziation eines jüdischen Mitbürgers zu diesem Zeitpunkt unabsehbare Folgen haben musste, war kein Geheimnis, auch wenn die in der Wannseekonferenzvom 20. Januar 1942 beschlossene »Endlösung der Judenfrage« streng geheim gehalten wurde. Zu den organisatorischen Details der »Endlösung« zählte die genaue Eingrenzung der Opfergruppen, in die nun auch bei bestehenden »Mischehen« der jüdische Teil einbezogen werden sollte. Einen Monat nach der Wannseekonferenz wurde Pali Meller am 23. Februar 1942 verhaftet und über die Justizvollzugsanstalt Moabit am 11. März 1942 in das Strafgefängnis Plötzensee gebracht. Noch immer konnte ein als Jude denunzierter gebürtiger Ungar nicht automatisch in ein Konzentrationslager deportiert werden, sondern musste »ordnungsgemäß« der Justiz übergeben werden. Allerdings repräsentierte das Justizwesen der NS-Zeit nur noch die rudimentären Überreste eines Rechtsstaats und war selbst Teil jenes »Maßnahmenstaats« von Polizei und SS, der mit Terror und Willkür die Ausschaltung von »Gemeinschaftsfremden« zum Ziel hatte. Grundsätzlich aber unterstand weiterhin das Gefängniswesen der Justiz, während die Polizei seit 1933 ihr eigenes System von Konzentrationslagern aufgebaut hatte. Im Unterschied zu den Polizeihäftlingen konnte Pali Meller als Untersuchungshäftling der Justiz zumindest auf ein gerichtliches Urteil rechnen.
Aus der Untersuchungshaft begann er sofort, seinen beiden Kindern, mit Kosenamen Pila und Barra genannt, Briefe über Gott und die Welt, Sprache und Kunst, Beruf und Berufung, Leben und Tod zu schreiben. Aus den 24 Briefen und zwei Postkarten, die Pali in den 13 Monaten bis zu seinem Tod an die Kinder und die HaushälterinFranziska Schmitt schrieb, lässt sich ein intensiver Briefwechsel erkennen, auch wenn die Kinderbriefe nicht erhalten sind. Mithilfe der langjährigen und verantwortungsvollen Haushälterin gelang es, die Kinder zunächst noch im Unklaren über den wahren Grund für das plötzliche Verschwinden ihres Vaters zu lassen. Es hieß, »Papa ist in Ungarn«. Die von der ganzen Familie nur in der Kurzform gerufene Haushälterin Franzi hatte nach dem Tod der Mutter längst die zahlreichen Pflichten und Aufgaben einer Ersatzmutter übernommen. Dennoch blieb stets der im Umgang mit Hausangestellten übliche Abstand gewahrt, auch wenn Franzi gelegentlich als Blitzableiter fungieren musste. Mit der Verhaftung ihres Arbeitgebers, dem sie sich trotz seines aufbrausenden und leichtsinnigen Wesens mit großer Bewunderung verpflichtet fühlte, fiel ihr von heute auf morgen eine Verantwortung ganz anderer Art zu, der sie sich wie selbstverständlich stellte. Denn es galt, den beiden »halbjüdischen« Kindern nicht nur Mutter und Vater zu ersetzen, sondern diese auch vor der drohenden Gefahr antisemitischer Diskriminierung und Verfolgung zu beschützen. Pali wusste, dass er sich auf die zupackende und bodenständige Franzi verlassen konnte, die mit ihren Schützlingen Fahrradausflüge durch die Jungfernheide vorbei an der Gefängnismauer unternahm, um dem Vater einen heimlichen Blick auf seine Kinder zu ermöglichen. Immer wieder mahnte er Pila und Barra zum unbedingten Gehorsam ihr gegenüber und beschwor Franzi, seinen Platz bei den Kindern einzunehmen. Sie war der »Kapitän«,
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