Papierkuesse
habe viel Zeit! Ich lese viel, aber hauptsächlich denke ich an Euch drei und mache mit Euch in der Phantasie die tollsten Ausflüge und Reisen, die dann an Fieberpracht nicht zu übertreffen sind. Oder wir rasen mit Rad durch Ungarn (Babizzi wir beide voran), auf Pilas Rad wackelt unser Zelt, und Franzi kommt kaum mit, mit ihrem hohen Rad. Und wenn wir Durst haben, gibt’s saure Milch und den Hunger stillen wir mit Honigbrot! Pila! Schreib mir wieder, was Du liest, oder auch, was Du schreibst. Schreib nicht über Deine Gefühle zu mir (denn die kenn ich), sondern über Dich selbst! Barbara! Meine große Weltkünstlerin. Schreib mir über alte und neue Erfolge und über die neue Schule. Tausend Küsse Papa
Franzi! Bitte postwendende Antwort! Noch was: fabelhaft elegant warst Du beim Besuch! 14. 3. 43
Dokumente und biografische Skizze
Der gefälschte Abstammungsnachweis
Das Aufnahmeformular für die Reichskammer der bildenden Künste
Die Gefangenenkarteikarte aus Berlin-Plötzensee
Die Generalvollmacht von Pali Meller für Franziska Schmitt
Ablehnung des Einspruchs von Franziska Schmitt gegen die Kündigung der Wohnung in der Knobelsdorffstraße 110
Sterbeeintrag im Personenstandsregister des Standesamts Brandenburg an der Havel
Pali Meller – eine biografische Skizze
von Dorothea Zwirner
Pál Meller, genannt Pali, wurde am 18. Juni 1902 in der westungarischen Kleinstadt Sopron/Ödenburg nahe der österreichischen Grenze als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Zahnarztes geboren. Er wuchs mit seiner um ein Jahr älteren Schwester Edith und reichlich Personal in dem geräumigen 12-Zimmer Haus auf, wo sein Vater Bélá als Zahnarzt praktizierte. Dieser kam aus dem nahegelegenen Dorf Hegykö und hatte mit 33 Jahren kurz vor der Jahrhundertwende die dreizehn Jahre jüngere Adél Markovits geheiratet, die wie er aus wohlhabenden Verhältnissen stammte. Ein Foto zeigt die junge Mutter mit den Kindern in weißer Festtagsgarderobe (Abb. 1), an den Vater erinnert sich der Sohn später als »in den unerreichbaren Wolken seiner Allmacht« thronend. Dabei war er durchaus kein konservativer Mensch, sondern gehörte dem Reformjudentum an, das in Ungarn als Neologie bezeichnet wurde und moderate Neuerungen im religiösen Leben und Erziehungswesen einführen wollte. Für einen assimilierten Juden wie Bélá Meller ging es dabei weniger um eine Glaubensfrage, als vielmehr um eine liberale und aufgeschlossene Haltung der modernen Welt gegenüber. In dieser Übergangsphase in ein neues Jahrhundert mit neuen Grenzverläufen wuchsen seine beiden Kinder in Sopron/Ödenburg von Anfang an zweisprachig auf. Während man zuhause Ungarisch sprach, wurde in der Schule auf Deutsch unterrichtet. Mit dem Zerfallder k. u. k. Monarchie ließ Pali das fest gefügte, militärisch und aristokratisch geprägte Wertesystem seiner ungarischen Heimat und Jugendzeit hinter sich, um in das neue Zeitalter der Moderne aufzubrechen. Ungarns Staatlichkeit wurde nach dem Ersten Weltkrieg im Vertrag von Trianon 1920 neu geordnet, wodurch das tausend Jahre alte Königreich zwei Drittel seines Gebiets verlor. Dabei fiel das westungarische Burgenland an Österreich mit Ausnahme von Sopron, das sich 1921 in einer Volksabstimmung mit Zweidrittelmehrheit für den Verbleib bei Ungarn entschied. Pali hatte bereits 1920 für die österreichische Staatsangehörigkeit optiert, um nach dem Abitur ein Architekturstudium an der Technischen Hochschule in Wien aufzunehmen, das ihn über Stuttgart, Karlsruhe, Rom wieder nach Karlsruhe führte. In Stuttgart freundete sich der junge Architekturstudent mit dem Kunsthistoriker Hans Hildebrandt und dessen jüdischer Frau, der Malerin Lily Hildebrandt, an, in deren Haus sich die deutsche Avantgarde von Künstlern und Architekten wie Walter Gropius, Oskar Schlemmer, Willi Baumeister und Hannah Höch traf. Der gutaussehende junge Mann (Abb. 2) war ein gern gesehener Gast im Hause Hildebrandt. Als fertiger Diplomingenieur reiste er nach Paris und 1925 nach Holland, wo er vier Jahre am Stadtbauamt von Rotterdam als Mitarbeiter des niederländischen Architekten und Autors Jacobus Johannes Pieter Oud beschäftigt war. Oud war 1917 – 21 Mitglied der Künstlergruppe De Stijl gewesen und hatte einige Beiträge über moderne Architektur in der gleichnamigen Zeitschrift publiziert. Als Stadtbaumeister von Rotterdam errichtete Oud in den 1920er-JahrenWohnanlagen und Siedlungen, wodurch er auch international zu einem der
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