Papillon
den wir in den Ameisenhaufen steckten, und dann haben wir sie von dem Stock auf ihn heruntergeschüttelt. Es hat nicht mehr lange gedauert, eine halbe Stunde später haben ihn die Ameisen zu Tausenden angegriffen. Hast du einmal fleischfressende Ameisen gesehen, Papillon?«
»Nein, noch nie. Ich habe nur große schwarze Ameisen gesehen.«
»Sie sind winzigklein und blutrot. Sie reißen mikroskopisch kleine Fleischstücke heraus und tragen sie in ihr Nest. Wenn wir schon unter den Feuerfliegen gelitten haben, stell dir vor, was er mitgemacht haben muß, lebendig von den Tausenden Ameisen abgenagt zu werden. Sein Todeskampf hat zwei volle Tage und einen Vormittag gedauert. Nach vierundzwanzig Stunden hatte er keine Augen mehr.
Ich weiß, daß wir unbarmherzig waren in unserer Rache, aber man muß bedenken, was er uns angetan hat.
Ein Wunder, daß wir nicht tot waren. Selbstverständlich wurde der Kerl überall gesucht, und die übrigen arabischen Gefangenenwärter, ebenso die Aufseher haben uns verdächtigt, an seinem Verschwinden nicht unbeteiligt zu sein. In einem anderen Gebüsch haben wir täglich an einem Loch gegraben, in dem wir seine Reste verscharren wollten. Sie hätten den Araber bis heute nicht gefunden, wenn ein Posten uns nicht hätte graben gesehen. Als wir zur Arbeit gingen, folgte er uns. Das war unser Ende. Eines Morgens, unmittelbar nach der Ankunft am Arbeitsplatz, binden wir den Araber, der noch voller Ameisen, aber schon nur mehr ein Skelett war, los, und gerade als wir ihn in die Grube schleppen wollen – tragen hätten wir ihn ja nicht können, weil uns sonst die Ameisen blutiggebissen hätten –, wurden wir von drei arabischen Wärtern
und
zwei Aufsehern überrascht. Sie warteten gut versteckt und geduldig ab, bis wir ihn einzugraben begannen. Na und jetzt geben wir offiziell zu, daß wir ihn getötet und dann den Ameisen vorgeworfen haben. Das Gutachten des Gerichtsarztes aber besagt, daß der Leichnam keine tödliche Wunde aufwies und wir
den
Araber lebendig auffressen ließen.
Unser ›Verteidigerposten‹ – in Kilometer 42 sind nämlich die Aufseher improvisierte Advokaten – sagt, wenn unsere Behauptung durchgeht, könnten wir unseren Kopf retten, wenn nicht, dann nicht. Ehrlich gesagt, wir haben wenig Hoffnung. Also haben mein Freund
und
ich dich zum Erben bestimmt, ohne es dir bisher zu sagen.«
»Hoffen wir, daß ich euch nicht beerben muß. Ich wünsche es euch von ganzem Herzen.«
Wir zünden uns eine Zigarette an, und sie schauen mich an, als wollten sie sagen: Na und, was sagst du jetzt?
»Hört einmal zu, Burschen. Ich sehe, daß ihr darauf wartet, mein Urteil als Mensch in eurem Fall zu hören.
Zuvor eine letzte Frage, die aber keinen Einfluß auf meine Entscheidung hat: Wie denkt der Großteil in diesem Saal darüber, und warum redet ihr mit keinem?«
»Der Großteil denkt, daß wir ihn hätten töten sollen, aber nicht lebendig auffressen lassen. Und wir reden mit keinem, weil es eines Tages bei einer Revolte eine Gelegenheit zu fliehen gab, aber sie haben es nicht getan.«
»Meine Meinung, Kinder, werde ich euch sagen. Ihr habt recht gehabt, ihm hundertfach zurückzuzahlen, was er euch angetan hat. Die Sache mit dem Wespennest oder den Feuerfliegen ist nicht zu entschuldigen.
Wenn ihr geköpft werdet, denkt im letzten Moment sehr intensiv an eines: Man wird uns den Kopf abhacken, das dauert dreißig Sekunden, angefangen von dem Moment des Anbindens bis zum Fallen des Beils. Sein Todeskampf hat sechzig Stunden gedauert. Ich bin also besser dran als er. Und was die Männer im Saale betrifft, so weiß ich nicht, ob ihr ganz recht habt. Vielleicht habt ihr nur geglaubt, daß die Revolte damals zu einer allgemeinen Flucht führen könnte, und die andern waren anderer Ansicht. Anderseits wieder kann man bei einer Revolte immer jemanden töten müssen, ohne es vorher zu wollen. Aber ich glaube, daß von den allen hier ihr und die Brüder Graville die einzigen seid, die ihren Kopf riskieren würden. Kinder, jede Situation bringt zwangsläufig verschiedene Reaktionen mit sich.«
Zufrieden mit unserer Unterhaltung, zogen sich die beiden armen Teufel zurück und nahmen ihr schweigsames Leben, das sie meinethalben unterbrochen hatten, wieder auf.
Die Flucht der Menschenfresser
»Sie haben das Holzbein verschluckt!« – »Ein Ragout aus einem Holzbein!« Oder einer imitiert eine Frauenstimme: »Ein Stück Kumpel, gut gegrillt, ohne Pfeffer, Meister, ich bitte
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