Papst & Teufel - die Archive des Vatikan und das Dritte Reich
klar und deutlich, daß der Pontifex maximus seine Aussagen nicht nur anlaßbezogen beziehungsweise auf die italienische Situation fixiert, sondern in viel grundsätzlicherer Weise verstanden wissen wollte. Es ging ihm nicht nur um die gerade abgeschlossenen Verhandlungen mit Mussolini und den italienischen Faschismus. Pius XI. nutzte die Audienz vielmehr, um am Beispiel des Themas Bildung und Erziehung Rolle und Funktion der Kirche angesichts der Herausforderungen der modernen Welt in prinzipieller Weise zu umreißen. Dabei sahen sich Papst und Kurie seit dem 19. Jahrhundert mit den zunehmenden Versuchen der Staaten konfrontiert, den Einfluß der Kirche in zentralen Bereichen wie der Erziehung der Kinder und Jugendlichen zurückzudrängen oder sogar ganz auszuschalten. Der Papst betrachtete die kirchliche Erziehung als einen unabänderlichen ewigen göttlichen Auftrag an die Kirche zur Rettung der Seelen der jungen Menschen. Die katholische Kirche als «Mater et Magistra», als Mutter und Lehrerin, hatte für ihn nicht nur das unaufgebbare Recht, sondern auch die heilige Pflicht, den Eltern, denen das Erziehungsrecht im Schoß der Kirche nach göttlichem Recht unverrückbar zukam, ihre Hilfe in diesem Bereich angedeihen zu lassen, weil die einzelnen Familien ansonsten überfordert wären. Der Staat indes dürfe sich dieses Recht der Erziehung in gar keinem Fall anmaßen, das wäre «absurd» und «gegen die Natur» – so der Papst. In der vollständigen Kontrolle von Erziehung und Bildung der jungen Generation, die von zahlreichen Staaten, gleich welcher Weltanschauung sie auch folgten, angestrebt wurde, sah Pius XI. eine Hauptgefahr nicht nur für das zeitliche Wohl, sondern auch für das ewige Heil der Kinder und Jugendlichen. Hier war die Kirche gefordert, hier standen ewige Werte auf dem Spiel, hier ging es um Sein oder Nichtsein, hier mußte man notfalls sogar mit dem Teufel in Person verhandeln. Der Papst unterstrich in seiner Ansprache, daß er in dieser Weise schon mehrfach mit den Staaten verhandelt habe und bis an die Grenzen des für die Kirche Möglichen gegangen sei, «wenn davon das Schicksal unserer geliebten Katholiken abhing». Aber wenn es um die naturrechtlichen Prinzipien und das göttliche Recht selbst ging, mußte die Kirche nach AnsichtPius’ XI. unnachgiebig bleiben, weil diese «unanfechtbar, unabdingbar, unwiderstehbar» seien, also schlicht nicht zur Disposition der Menschen – auch nicht der Kirche – stünden.
Der moderne Staat, gleichgültig auf welcher weltanschaulichen Grundlage er basierte, versuchte nach Ansicht von Papst und Kurie einen umfassenden beziehungsweise totalen Anspruch auf seine Bürger durchzusetzen, der mit dem nicht minder totalen Anspruch der katholischen Kirche auf ihre Gläubigen in Konflikt geraten mußte. Die katholische Weltanschauung sah sich im Laufe des 20. Jahrhunderts immer stärker mit totalitären Ideologien konfrontiert, die als politische Religionen das Christentum und seinen absoluten Wahrheitsanspruch bis aufs Messer bekämpften. Ideologien traten mit einem ebensolchen Anspruch und dem Ziel einer totalen Vereinnahmung von Staat, Gesellschaft und Individuen auf. Sie vergötterten sich selbst in Pervertierung des biblischen Gebots «Du sollst keine anderen Götter neben mir haben». Daß die katholische Kirche mit ihrem dem Selbstverständnis nach in Gott selbst gründenden Wahrheitsanspruch und der Papst als Repräsentant Jesu Christi angesichts dieser vielfältigen, nicht minder umfassenden Heilsangebote und alternativen politischen Religionen herausgefordert waren, liegt auf der Hand. «Der Begriff des Totalitarismus» – so hieß es in einem internen Papier des Päpstlichen Staatssekretariates vom Herbst 1933 – «darf aber keinesfalls dazu mißbraucht werden, um politische und weltliche Ziele zu erreichen. Die Kirche selbst strebt nach Totalität, um den ganzen Menschen und die ganze Menschheit für Gott zu verlangen.»[ 2 ]
Wenn im folgenden von «Totalitarismus» und «Totalitarismen» gesprochen wird, dann geschieht dies eher aus pragmatischen Gründen; eine Anlehnung an eine bestimmte Theorie ist damit nicht verbunden. Die Verwendung des Totalitarismusbegriffs könnte in der Tat dazu führen, die Gemeinsamkeiten ganz unterschiedlicher politischer Systeme wie des Kommunismus und des Faschismus zu stark zu betonen. Hier geht es nur darum, den umfassenden Anspruch, den unterschiedliche politische Ideologien und religiöse
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