Para-Traeume
bewußt wurde: Hinter ihnen besang Enrico Caruso stimmgewaltig die >Klage des Federico< - nur um die wahre Klage des echten Federico zu übertönen! Denn er, den sie den >Träumer< nannten, war es, der sich ein Stück entfernt fürchterlichstes Leid aus dem Leibe brüllte .
»Und genau das ist geschehen?« kam Raphael auf den Kern ihrer Unterhaltung zurück; zum einen aus echtem Interesse, zum anderen jedoch, um sich wenigstens ein bißchen von den Schreien abzulenken. »Die Strukturen der Macht sind durcheinandergeraten?«
»Wir wissen es nicht mit Bestimmtheit«, antwortete Salvat und bog in einen schmaleren Seitengang ab. »Aber es scheinen Dinge in Gang geraten zu sein, die dem Wort >weltbewegend< eine neue Bedeutung geben könnten.«
»Und diese Dinge gilt es zu verhindern?«
»Das ist eine Entscheidung, die erst zu fällen ist, wenn wir diese Dinge wirklich kennen. Und wir können mehr darüber erfahren, wenn wir den Spuren und Hinweisen folgen, die uns der Träumer geben kann.«
Salvat blieb vor einer niedrigen Öffnung in der Felswand stehen und wies mit einladender Geste darauf.
»Darf ich vorstellen? Der Träumer.«
Raphael trat vor, sah in den hinter dem Loch liegenden Raum -und erstarrte.
Weil das Geschrei geradezu ohrenbetäubende Qualität erlangte.
Und weil der Anblick schlichtweg entsetzlich war.
In der Mitte der Felskammer befand sich ein fast runder Steinblock mit ebener Oberfläche. Und darauf krümmte und wand sich wie in Krämpfen - der Träumer.
Eine dürre Gestalt, die aus kaum mehr als Haut und Knochen zu bestehen schien. Unweigerlich fragte Raphael sich, aus welchen verborgenen Winkeln seines ausgemergelten Körpers dieser Federico noch die Kraft nahm, in dieser Lautstärke zu schreien.
Er wollte es nicht, und doch gab es nichts, was er dagegen hätte tun können: Schritt um Schritt trat Baldacci näher an den altarähnlichen Block heran, und es hätte nicht einmal Salvats Hand bedurft, die er im Rücken spürte und die ihn mit sanftem Druck vorschob.
Wie von selbst bewegten sich seine Beine, bis er neben der Liegestatt des Träumers stand und auf ihn hinabsehen konnte.
Federicos Haut war weiß; nicht nur bleich, sondern weiß wie frisch gefallener Schnee. Und als Raphael sie ohne sein bewußtes Zutun vorsichtig berührte, spürte er, daß sie rauh und spröde und hart wie Ton war. Die Augen des Träumers lagen so tief in den Höhlen, daß nur Schwärze sie zu füllen schien. Und doch, obwohl dieser Mann einem Toten ähnelte, ging eine geradezu elektrisierende Vitalität von ihm aus, von der Baldacci fast glaubte, sie würde die Luft im Raum knistern lassen.
»Warum lebt er noch?« fragte Raphael mit belegter Stimme. »Wie ist es möglich .«
»Er lebt, solange er träumt. Und er träumt, solange er lebt«, erwiderte Salvat.
Die dunklen, scheinbar leeren Augenhöhlen richteten sich auf Bal-dacci, und obwohl er meinte, daß sie blind sein müßten, spürte er sich von Blicken regelrecht berührt und abgetastet.
»Was soll nun geschehen?« wollte er wissen. Selbst seine Stimme schien zu frösteln.
»Du bist der letzte Gesandte, den wir ausschicken, um die letzte der Fährten aufzunehmen.«
»Warum ich?« wandte Raphael von neuem ein. »Adrien sagte, ich wäre noch nicht soweit, und ich .«
»Es gab so viele Hinweise und Spuren, denen wir nachgehen mußten, daß alle Gesandten schon auf dem Weg sind. Du bist der einzige, der weit genug fortgeschritten ist, daß ich es zu wagen bereit bin, dich auszusenden«, erklärte Salvat, und ein Funke der Zuversicht in seinen Worten sprang auf Baldacci über.
Er fühlte mit einemmal etwas in sich; etwas, das Kräfte weckte, die seit jeher in ihm gewesen waren, doch bislang brachgelegen hatten. Er hatte sie eigentlich langsam und Stück für Stück mobilisieren sollen, um nach und nach zu lernen, sie zu beherrschen. Doch jetzt standen sie unmittelbar davor, vollends und auf einmal zu erwachen.
»Wie erfahre ich, was zu tun ist? Wie finde ich meinen Weg?« fragte er, nicht länger zaudernd, sondern entschlossen.
»Lies in ihm.«
Salvat wies mit einer fast beiläufigen Geste auf den Träumer, und Raphael Baldacci schauderte, als er begriff, was der andere ihm hieß.
Er sollte eintauchen, eins werden mit dem Geist dieses menschlichen Wracks, in dem doch nichts anderes sein konnte als - Wahn-sinn . Ein im Irrsinn tobender Dämon, der jeden angreifen würde wie ein tollwütiger Hund, wenn er sich ihm näherte.
Und er, Raphael Baldacci,
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