Para-Traeume
sollte sich ihm stellen, ohne daß er auch nur annähernd Vergleichbares je zuvor versucht hätte .
Salvat entging sein Zögern nicht.
»Tu es«, forderte er ihn auf. »Dies ist der Moment, da sich weisen wird, ob meine Hoffnung in dich berechtigt ist.«
Und wenn nicht?
Raphael stellte die Frage nicht laut. Weil er die Antwort fürchtete. Die Antwort, die ihm nur seine Vermutung bestätigen würde, daß Salvat ein Menschenleben wenig galt, wenn es nur der Sache diente.
Er streckte die Hände vor, verharrte noch eine Sekunde dicht über dem Gesicht des Träumers - und dann setzte er seine Finger in jenem Griff an, den Adrien ihn gelehrt hatte.
Eigentlich war dabei vorgesehen, daß die Mittelfinger die geschlossenen Lider des anderen berührten. Doch hier - versanken sie ein kleines Stück in der Schwärze der Augenhöhlen und stießen selbst dann noch nicht auf Widerstand! Nur auf Kälte ...
Raphael gebot dem neuerlichen Schauer, der ihm über den Rücken kriechen wollte, mit eisernem Willen Einhalt.
Er spürte, daß seine Adern nicht länger nur Blut transportierten, daß etwas unglaublich Mächtiges diese Bahnen nutzte. Und dann galt all seine Konzentration nur noch dem Fluß der Kraft, dem Bewegen von unsichtbaren Dingen, die in und aus ihm wuchsen, die zunächst ungezielt um sich tasteten und die er kraft seiner Gedanken schließlich auf einen Punkt zuzwang.
Auf einen Punkt im Geist des Träumers - der den Wahnsinn schärfer bewachte, als Raphael es für möglich gehalten hätte. Die >Gliedmaßen< seines eigenen Geistes fochten Kämpfe mit dem Fremden, die jede Beschreibung verharmlosen mußte, weil es die wahren Worte dafür nicht gab. Raphael ließ sie Hindernisse niederringen, deren bloße Abartigkeit allein schon genügen konnte, fremden Willen auf ewig zu brechen.
Federicos wahnverseuchter Geist gebar Monstren, die sich dem Eindringenden entgegenwarfen, und Raphael schlug wahre Schlachten, zu gleicher Zeit an vielen Fronten.
Und dann, nach einer Ewigkeit, brach er durch zu seinem Ziel .
Schließlich sah Raphael Baldacci wieder mit eigenen Augen. Die Felskammer drehte sich um ihn, oben und unten verkehrten sich ins Gegenteil, der Boden schlug Wellen, und Raphael ließ sich fallen.
Nach einer Weile tauchte ein Gesicht über ihm auf, und nach weiteren endlosen Sekunden hörte es endlich auf, seine Größe fortwährend zu verändern.
»Und?« fragte Salvat.
Baldacci atmete tief durch, ehe er antwortete: »Ich kenne jetzt meinen Weg.«
Salvat nickte freudlos lächelnd. »Dann geh hin ...«
Er sah dem jungen Mann fest in die Augen, und sein Lächeln glitt eine Spur ins Zufriedene.
». .. Gesandter.«
Und Raphael Baldacci machte sich auf den Weg.
Auf seinen Weg.
*
Salem's Lot
»Geht es dir besser, mein kleiner Freund?«
Die Stimme erreichte Lilith wie aus großer Entfernung, obwohl sie auf einer anderen Ebene ihres Denkens spürte, daß sie ganz nah war.
Der Klang der Worte übte etwas wie eine magnetische Anziehung auf ihr Bewußtsein aus. Es tauchte, unendlich langsam und unter neuen Schmerzen, aus dem Loch auf, in das es versunken war, und dieser imaginäre Kraftakt zehrte weiter an ihren fast schon aufge-brauchten Reserven.
Etwas Großes, Bleiches hing über ihr wie ein Ballon, und ein dunkler Halbmond schwebte darin, darüber zwei nachtschwarze Sterne.
Liliths Sinne brauchten eine ganze Weile, bis sie das Etwas als Gesicht erkennbar werden ließen.
Das Gesicht eines alten Mannes, der lächelnd auf sie herabsah und sie mit seinem Blick wärmte.
Doch dieses bißchen Wärme war lange nicht genug, um sie wirklich zu kräftigen.
Kräftigen konnte Lilith nur eines: Das dunkle Elixier, das nie unerreichbarer gewesen war als jetzt und an dem sie sich vielleicht nie wieder würde laben können.
Sie fühlte eine zärtliche Berührung an der Brust, in der sie immer noch den glühenden Dorn zu spüren meinte. Der alte Mann hatte seinen Arm heruntergestreckt und streichelte sanft ihren Pelz.
Plötzlich stockte er.
»Was hast du denn hier?« fragte er und stieß mit dem Finger gegen einen breiten schwarzen Ring, den sie um den pelzigen Hals trug: Der Symbiont, der sich wie stets während ihrer Metamorphose auf sein kleinstes Volumen reduziert hatte, um ihren Flug nicht zu beeinflussen.
Früher, vor den Geschehnissen im Garten Eden, hätte sie ihm befehlen können, ihr beizustehen. Doch das Symbiontenstück, das ihr geblieben war, war zu nichts anderem mehr zu gebrauchen denn als
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