Para-Traeume
es am eigenen Leibe spüren, weil sie womöglich immer daran denken würde .
»Es ist unverkäuflich«, sagte sie schnell.
»Oh«, erwiderte der alte Mann, »ich bitte Sie .«
Er sah Jennifer tief in die Augen. Sehr tief. Tiefer als irgend jemand zuvor .
Sie nickte. Steif und noch immer ein kleines bißchen gegen ihren Willen, aber sie nickte.
»Gut, Sie bekommen es«, sagte sie und wollte sich gerade über ihre eigenen Worte wundern, als alle Zweifel und Vorbehalte in ihr einfach vergingen.
»Könnten Sie es mir liefern, wenn es fertig ist?« fragte der Alte.
»Natürlich, gern.«
»Fein«, erwiderte er, und mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu: »Sie wissen ja, wo ich wohne, nehme ich an?«
Damit wandte er sich um und ging.
Und Jennifer malte weiter. Mit noch größerem Eifer.
*
Laß mich, fatale Vision!
Du verwundest mich tief!
Francesco Cilea: »L'Arlesiana«
Der Eindruck von Finsternis wich nach wenigen Schritten, während der Raphael Baldacci sich am Geräusch des gegen den Fels tickenden Gehstocks orientiert hatte. Von irgendwoher kam trübe Helligkeit, die genügte, den Weg zu erkennen, und dann hatte er Salvat eingeholt, hielt sich jedoch respektvoll zwei Schritte hinter ihm.
»Wohin gehen wir? Welche Aufgabe hast du für mich vorgesehen?« fragte der Jüngere, nachdem sie schon seit Minuten durch verwinkelte Gänge und leere Räume und Kammern gegangen waren.
Salvats Schweigen war Antwort genug. Es bedeutete: Du wirst es erfahren, wenn ich die Zeit für gekommen halte.
Trotzdem sie im weiteren nicht miteinander sprachen, war es nie völlig still um sie herum. Stimmen, die nur zu hören, nicht aber zu verstehen waren, erreichten sie aus allen möglichen Richtungen, und dazwischen mengten sich Geräusche, deren Ursprung zumindest Raphael in den allerwenigsten Fällen kannte.
Aber er wußte, daß er nicht der einzige >Schüler< hier war. Er wußte auch, daß die meisten Prüfungen und Lektionen weit weniger harmlos waren als das, was sein Lehrmeister vorhin mit ihm praktiziert hatte.
Und aufgrund dieses Wissens konnte er zumindest ein paar Quellen der Laute, die ihn erreichten, erahnen .
Nach weiteren drei Minuten veränderte sich die Klangkulisse. Stimmen und Geräusche blieben hinter den beiden Männern zurück, und an deren Stelle wurde etwas laut, das Raphael beinahe zum Stehenbleiben veranlaßt hätte.
Musik.
Gesang.
»Il lamento di Federico« .
Baldacci kannte das Stück aus Francesco Cileas »L'Arlesiana«, mit der damals Enrico Caruso zum ersten großen Opernstar avanciert war.
Und es schien ihm sogar Carusos Stimme zu sein, die hier »Die Klage des Federico« intonierte. So klar und deutlich und von so grandioser Akustik, als sänge der legendäre Tenor tatsächlich und leibhaftig in einer der nahegelegenen Kavernen .
Raphael fand jedoch kaum Muße, sich an dem wundersamen Musikgenuß zu laben. Denn schon wenig später begriff er, daß der Gesang nur einem Zweck diente: Er sollte etwas anderes überlagern.
Etwas auf furchtbarste Weise Kakophonisches.
Schreie.
Die schrecklichsten Schreie, die Raphael Baldacci je gehört hatte.
Und er wagte sich nicht einmal vorzustellen, was einen Menschen zu solchem Brüllen veranlassen könnte.
Denn daß es ein Mensch war, der da schrie, daran zweifelte er nicht. Er wünschte, er hätte es gekonnt. Vielleicht wäre das Gebrüll dadurch ein bißchen leichter zu ertragen gewesen .
Mit jedem Schritt, den sie weitergingen, wurde Carusos Gesang leiser - oder auch nur von den Schreien erstickt.
»Hast du je etwas vom >Träumer< gehört?«
Salvats Frage kam so unvermittelt, daß Baldacci zusammenzuckte. Dann nickte er.
»Ja«, sagte er und fuhr fort: »Wie man erzählt, soll er eine Art Medium sein, das auf ungewöhnliche Schwingungen des Machtnetzes reagiert.«
Raphael Baldacci war noch nicht sehr lange, aber immerhin lange genug an diesem Ort, um zumindest von einigen Mysterien, die hier gehütet wurden, gehört zu haben. Wenn er es recht bedachte, war er ja selbst eines davon ...
Salvat nickte.
»Ja, so ist es. Doch der Träumer kann noch ein bißchen mehr. Er empfängt Hinweise, bisweilen sogar Bilder, wenn etwas die Strukturen der Macht durcheinanderbringt.« Er verstummte kurz und fügte dann lächelnd und mit einer vagen Kopfbewegung, die den Gesang hinter ihnen meinte, hinzu: »Sein wahrer Name ist übrigens Federi-co.«
»Il lamento di Federico« .
Baldacci erschauerte unwillkürlich, als ihm der zynische Zusammenhang
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