Paradies Pollensa
ländlichen Bahnhof aus dem Wagen stieg und dem Schaffner die erwartete Münze in die Hand drückte, war es jedoch genau zwei Minuten nach acht. Ein Chauffeur in dunkelgrüner Uniform näherte sich Poirot.
»Mr Poirot? Nach Hamborough Close?«
Er griff nach der hübschen Reisetasche des Kriminalisten und begleitete Poirot zum Ausgang. Vor dem Bahnhof stand ein großer Rolls-Royce. Der Chauffeur hielt Poirot den Schlag auf, so dass er einsteigen konnte, und legte ihm eine riesige Pelzdecke über die Beine. Dann fuhren sie los.
Nach etwa zehnminütiger Fahrt über Land bog der Wagen durch ein breites Tor, das von riesigen steinernen Jagdhunden flankiert war.
Sie fuhren durch den Park und vor dem Haus vor. Als sie hielten, wurde die Haustür geöffnet, und ein Butler von imposanter Gestalt trat auf die Treppe hinaus.
»Mr Poirot? Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«
Er führte den Kriminalisten durch die Halle und öffnete dann an der rechten Seite eine Tür.
»Mr Hercule Poirot«, meldete er.
In dem Zimmer befand sich eine Reihe von Leuten in Abendkleidung, und als Poirot den Raum betrat, nahmen seine schnellen Augen sofort wahr, dass man ihn nicht erwartet hatte. Die Blicke der Anwesenden ruhten in unverhüllter Überraschung auf ihm.
Dann kam eine hoch gewachsene Frau unentschlossen auf ihn zu.
Poirot beugte sich über ihre Hand.
»Ich bitte um Entschuldigung, Madame«, sagte er. »Ich fürchte, mein Zug hatte Verspätung.«
»Aber ich bitte Sie«, sagte Lady Chevenix-Gore unsicher. Ihre Augen starrten ihn immer noch leicht verwirrt an. »Aber ich bitte Sie, Mr… äh… Ich habe leider Ihren…«
»Hercule Poirot.«
Irgendwie hörte er, dass hinter ihm jemand plötzlich tief einatmete. Im gleichen Augenblick merkte er, dass sein Gastgeber sich nicht in diesem Zimmer befinden konnte. Höflich murmelte er: »Sie wussten, dass ich kommen würde, Madame?«
»Ich… äh, ja…« Ihre ganze Art war keineswegs überzeugend. »Ich glaube… ich meine, ich habe es wahrscheinlich gewusst, aber ich bin so schrecklich unpraktisch, Monsieur Poirot. Ich vergesse immer alles.« Ihr Tonfall verriet ein melancholisches Vergnügen an dieser Tatsache.
Und dann blickte sie sich in der Art, als erfüllte sie eine schon lange überfällige Pflicht, unsicher um und murmelte: »Bestimmt kennen Sie die Übrigen schon.«
Obgleich dies offenkundig nicht der Fall war, wollte Lady Chevenix-Gore sich mit dieser abgedroschenen Redensart ganz deutlich die Mühe des Vorstellens und die Anstrengung ersparen, sich an die richtigen Namen der verschiedenen Anwesenden erinnern zu müssen.
Um den Schwierigkeiten dieses besonderen Falles zu entsprechen, fügte sie noch unter Anspannung aller Energien hinzu: »Meine Tochter Ruth.«
Das Mädchen, das vor ihm stand, war ebenso hoch gewachsen und dunkel, davon abgesehen jedoch ein ganz anderer Typ. Anstelle der verschwommenen, unbestimmbaren Gesichtszüge der Lady Chevenix-Gore hatte sie eine feingeformte, leicht gebogene Nase und eine klare, sehr betonte Kinnpartie. Das schwarze Haar war zurückgekämmt und endete in einem Gewirr kleiner dichter Locken. Die Farbe ihres Gesichts war gesund und strahlend, obgleich sie kaum geschminkt war. In den Augen Hercule Poirots gehörte sie zu den bezauberndsten Mädchen, die er jemals gesehen hatte.
Außerdem fiel ihm auf, dass sie nicht nur schön, sondern auch gescheit war sowie ein gewisses Maß an Stolz und Temperament besaß.
»Wie aufregend«, sagte sie, »Monsieur Poirot als Gast hier zu haben! Mein Vater hat sich damit wahrscheinlich eine Überraschung für uns ausgedacht.«
»Sie wussten also nicht, dass ich kam, Mademoiselle?«, fiel er ein.
»Keine Ahnung hatte ich.«
Der Klang eines Gongs drang aus der Halle herüber; dann öffnete der Butler die Tür und meldete: »Es ist serviert.«
Und noch ehe er das letzte Wort ausgesprochen hatte, passierte etwas sehr Merkwürdiges. Die priesterliche Erscheinung des Bediensteten wurde, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, zu einem höchst erstaunten menschlichen Wesen…
Diese flüchtige Verwandlung erfolgte so schnell, und die Maske des guterzogenen Dieners war wieder so plötzlich zurückgekehrt, dass nur derjenige, der den Diener zufällig angesehen hatte, die Veränderung bemerkt haben konnte. Poirot allerdings hatte ihn angeblickt. Und es machte ihn stutzig.
Zögernd blieb der Butler im Türrahmen stehen. Obgleich sein Gesicht wieder von korrekter Ausdruckslosigkeit war, verriet
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