Paradies
Sonnenlicht ließ den Schnee glitzern. Die Männer stellten den Sarg auf einen Katafalk. Sie sah, dass die anderen Trauergäste auf der Treppe und längs der Wege zusammenstanden, sich schnauzten und flüsterten.
Sie alle kannten Aida. Alle haben in irgendeiner Beziehung zu ihr gestanden. Sie alle wissen mehr als ich.
Langsam ging sie zu einer Frau, die ein paar Treppenstufen tiefer stand.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Annika und stellte sich vor. »Ich kenne hier kaum jemanden, woher kannten Sie Aida?«
Die Frau lächelte freundlich und trocknete sich mit einem Papiertaschentuch die Tränen unter den Augen ab.
»Ich bin die Leiterin der Flüchtlingsunterkunft, in der Aida untergebracht wurde, als sie nach Schweden kam.«
Sie gaben sich die Hand, holten beide tief Luft und lächelten verlegen.
»Ich bin Journalistin«, sagte Annika. »Ich bin gekommen, weil ich geglaubt habe, dass Aida ganz allein war.«
Die Leiterin nickte zustimmend.
»Sie war sehr allein. Viele haben versucht, Kontakt zu ihr zu bekommen, aber man kam nur schwer an sie heran. Ich glaube, ihre Einsamkeit war selbst gewählt.«
Annika schluckte. Es war so verdammt einfach, nach ihrem Tod auch noch die Schuld dafür auf sie zu schieben.
»Und die Menschen, die hier sind?«, fragte Annika. »Wenn sie keine Freunde hatte, wer sind dann diese Menschen?«
Die Frau sah sie erstaunt an.
»Das sind einige Asylbewerber aus der Unterkunft, die Aida dort kennen gelernt haben. Sie kam gelegentlich zu Besuch. Ihren Nachbarn aus Vaxholm erkenne ich und dann die Repräsentanten des bosnischen Kulturvereins. Zum Beispiel die Frau, die eben gesungen hat. War das nicht schön?«
»Konnte ihr denn niemand helfen?«, fragte Annika. »Gab es wirklich niemanden, an den sie sich hätte wenden können?«
Die Leiterin sah Annika traurig an.
»Sie kannten sie nicht besonders gut, oder?«
Die Männer hatten den Sarg auf dem Katafalk platziert, und der Wagen begann seine langsame Fahrt zum Grab. Die Frau ging zu den anderen, und Annika folgte ihr.
»Das stimmt«, sagte Annika leise, »ich kannte sie nicht besonders gut. Ich habe sie nur wenige Tage vor ihrem Tod getroffen. Wann ist sie eigentlich nach Schweden gekommen?«
Die Leiterin sah Annika über die Schulter an und zögerte.
»Gegen Ende des Krieges«, antwortete sie dann flüsternd. »Sie hatte mehrere Schusswunden, überall Granatsplitter, es war ein furchtbarer Anblick. Flashbacks, Schüttelfrost, Schweißausbrüche, eine schlechte Wirklichkeitsauffassung. Sie trank ziemlich viel. Wir haben wirklich alles getan, um ihr zu helfen, Ärzte, Berater, Psychologen. Ich glaube nicht, dass es viel gebracht hat. In Aida wüteten furchtbare Dämonen.«
Annika sperrte die Augen auf.
»Wie meinen Sie das?«
Eine andere Frau trat zu der Leiterin und flüsterte etwas. Gemeinsam gingen die beiden daraufhin zu einer der Flüchtlingsfrauen, die unter Tränen zusammenbrach. Annika sah sich verwirrt um, rutschte auf einem Eisfleck aus und wäre beinahe hingefallen, ihr war schlecht, der Katafalk quietschte in der Kälte. Der Sarg glitt zwischen die Bäume, in die Schatten, außer Reichweite. Sie unterdrückte den Impuls, hinterherzulaufen und an den Sargdeckel zu klopfen.
Welche Dämonen lasteten auf dir? Was haben sie mit dir gemacht?
Das Grab war unheimlich, verlor sich in Dunkelheit und Kälte, warum gruben sie auch so verdammt tief? Hastig trat sie einen Schritt zurück.
Der Sarg ruhte neben dem Grab auf ein paar Brettern. Die Trauernden versammelten sich ringsum, alle hatten verheulte Augen.
Der Geistliche sprach wieder. Annika fror so sehr, dass sie zitterte und am liebsten gegangen wäre. Aida lag nicht in diesem Sarg, Aida war nicht anwesend, Aida war mit ihren Dämonen und Geheimnissen bereits entglitten.
Aus den Augenwinkeln sah sie etwas heranfahren, zwei große schwarze Autos mit getönten Scheiben und blauen Nummernschildern. Sie bremsten, hielten an, die Motoren wurden abgestellt. Annika betrachtete sie erstaunt.
Plötzlich öffneten sich gleichzeitig alle Türen, und fünf, sechs, sieben Männer stiegen aus. Der Pfarrer hörte auf zu lesen, und alle sahen sich verwirrt an. Die Männer in den Autos trugen graue Mäntel, blickten sich um und blickten die Trauergäste grimmig an.
Dann löste sich ein alter Mann aus der Gruppe. Annika starrte ihn mit halb geöffnetem Mund an. Es war ein Militär, sein Gang war schleppend und gebeugt, das Gesicht verschlossen, der Blick starr auf den Sarg
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