Paradies
lächeln, aber die eine Mundhälfte wollte nicht gehorchen.
»Er hat mich auf dem Fahrrad mitgenommen, den ganzen Weg an Fjellskäfte vorbei bis zur Kirche in Floda. ›Da werden wir heiraten‹, hat er gesagt, aber daraus ist dann doch nichts geworden, wir haben dann in der Kirche in Mellösa…«
Annika senkte den Kopf, tätschelte die kalte Hand, ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie hatte ihren Großvater niemals kennen gelernt. Er war im Herbst vor ihrer Geburt mit zerfressener Lunge gestorben. Durch ihre ganze Kindheit geisterte er als verrußtes Gespenst, immer schmutzig nach der Arbeit, immer voller Anekdoten und Einfälle. Sie wuchs mit Großvater Arvids Erzählungen auf, sie lebten nach seinem Tod weiter, formten ein Bild von ihm, das sie niemals überprüfen konnte. Annika blickte in das verwirrte Gesicht ihrer Großmutter, sah Arvid von neuem als jungen Mann auf dem Fahrrad.
»Sehnst du dich nach Arvid?«, flüsterte Annika.
Die Augen der Großmutter wurden klar, und sie begegnete Annikas Blick.
»Ich vermisse den jungen Mann«, sagte sie, »den starken und gesunden, nicht den nörgelnden und versoffenen.«
Annika erschrak. Sie hörte zum ersten Mal, dass ihr Großvater getrunken hatte.
»Sein eigenes Geld durfte er wohl vertrinken, aber an meins kam er nicht dran, mein Lohn ernährte mich und das Mädchen und brachte auch noch das Essen für den Mann auf den Tisch…«
Plötzlich begann ihre Großmutter zu weinen. Die Tränen rannen ihr aus den Augen in die Ohren hinab, und Annika wischte sie mit einem Papiertaschentuch weg.
»Barbro konnte einem Leid tun«, murmelte Sofia Katarina. »Sie musste als Kind zu oft allein bleiben. Ich konnte sie nicht ständig mit zur Arbeit nehmen, dort waren immerhin Minister und Präsidenten und Reichstagsabgeordnete, da konnte doch kein kleines Mädchen herumlaufen. Das war nicht gut, daraus ist eine Trauer in ihrer Brust geworden, die niemals stirbt.«
Die Großmutter legte ihre gesunde Hand auf Annikas und sah ihr in die Augen.
»Sei nicht zu streng mit Barbro«, flüsterte sie. »Du bist viel stärker als sie.«
Annika blinzelte die Tränen weg und versuchte zu lächeln.
»Keine Sorge«, erwiderte sie. »Wir werden uns schon vertragen, und du wirst wieder ganz gesund.«
Ihre Großmutter schloss für eine Minute die Augen und ruhte sich aus. Dann schlug sie die Augen wieder auf.
»Annika«, murmelte sie. »Dich liebe ich am meisten. Das ist sicher ein Fehler von mir gewesen, einen mehr als die anderen zu lieben.«
»Aber dadurch bin ich so stark geworden«, flüsterte Annika.
Der Stille, die als Antwort folgte, entnahm sie, dass ihre Großmutter wieder eingeschlafen war.
Die schneebeschwerten Zweige der Tannen formten einen Tunnel durch die Winternacht. Das Auto mit Maria Eriksson, ihrem Mann und ihren Kindern kam auf den vereisten Straßen nur langsam voran. Der Nordwind peitschte gegen die Windschutzscheibe und warf Kaskaden wirbelnden Schnees auf sie und um sie herum.
»Wir müssen tanken«, sagte Anders.
Die Frau auf dem Beifahrersitz antwortete nicht, sie starrte nur in den unendlichen, undurchdringlichen Wald hinaus. Sie wusste, was sie erwartete. Noch eine dieser ausgekühlten und zugigen Holzhütten mit einem rußenden Holzherd und Mäusen unter den Bodendielen. Noch eine Küche ohne fließendes Wasser, mit abgestoßenem Porzellan und angebrannten Möhren. Plumpsklo auf dem Hof. Sie hatte geglaubt, das alles hinter sich gelassen zu haben, hatte gehofft, dass die Stiftung die Lösung für ihre Probleme sein würde.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte der Mann und legte seine Hand auf ihre. »Bald ist es vorbei.«
Sie kamen in eine kleine Ortschaft. Ein geschlossenes Tabakgeschäft mit Lottoannahmestelle, eine Pizzeria, eine Zapfsäule mit Automat.
»Hast du Geld?«, fragte sie.
Er nickte und stieg aus. Sie zögerte einen Moment, beschloss dann aber doch, sich die Beine ein wenig zu vertreten. Sie waren unendlich lange gefahren, und die Kinder waren schon lange auf der Rückbank eingeschlafen. Sie trat in die eiskalte Luft hinaus, jetzt waren sie wirklich in Norrland. Sie drehte eine Runde um die kleine Tankstelle herum und überlegte, wo sie im Schatten des Gebäudes pinkeln könnte, ließ es dann aber bleiben, steckte die Hände in die Hosentaschen, fühlte das kalte Metall und erstarrte.
Sie zog heraus, worauf ihre Hand gestoßen war, zwei Schlüssel zu Sicherheitsschlössern, ein Assa-Schlüssel und ein Plastikanhänger mit einer
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