Paradiessucher
nicht brennbares Telegramm zu sein. Mutter knüllt es zusammen und schmeißt es wütend in den Papierkorb, aber auch das klappt nicht. Sie verfehlt den Korb aus 30 Zentimeter Entfernung, und wir bepissen uns vor Lachen, umarmen uns und weinen laut.
Oma ist tot. Das ist nicht möglich. Diese herzensgute Frau, die mich »du Esel« nannte, während sie mit dem Staubsauger den Boden bearbeitete, auf dem ich mich mit meinem Spielzeug ausgebreitet hatte, genau dort, wo sie mit der saugenden Röhre durchflitzen wollte, und am Schluss ein kleines, vergessenes Püppchen erwischte, das die lärmende Röhre verstopfte. Dieser Mensch lebt nicht mehr. Sie soll mich ruhig »du Esel« nennen, macht mir nichts aus. Sie soll immer in der ersten Theaterreihe stehen und klatschen und allen laut demonstrieren, dass sie meine Großmutter ist. Sie soll mich ruhig bis auf die Knochen blamieren, auch das macht mir nichts aus. Sie soll Tag und Nacht Torte essen und uns beschimpfen, wir Geizhälse würden es ihr nicht gönnen. Und sie soll uns dreißig Mal am Tag den dicken Bauchspeck zur Schau stellen, damit wir ihr die Insulinspritze geben können, auch das nehme ich in Kauf. Aber sie soll nicht sterben.
Unser Brief hatte sie nicht erreicht. Sie konnte sich kein Bild von unserem Leben in Deutschland machen, ahnungslos ist sie in die andere Welt hinübergegangen, im Glauben, dass wir im Bordell gelandet sind. Die Besorgte. Niemand außer uns selbst hätte ihr diese Angst nehmen können. Sie ist zu früh gegangen, wir konnten ihr nicht beistehen, befanden uns mitten in einem Wandlungsprozess, sie ist wie Sand zwischen unseren Fingern ins Niemandsland verloren gegangen. Konnte sie nicht ein wenig warten, die Übereilte? Und was wird aus Opa, jetzt, wo wir nicht da sind? Er kann uns nicht besuchen. Alles zu früh. Zu früh.
Der Schock hält lange an. Die andere Post lesen wir nicht, der Inhalt des Briefs in dem blauen Kuvert interessiert uns nicht die Bohne. Die Worte in Amtsdeutsch müssen wir uns sowieso von jemandem übersetzen lassen, diese Hieroglyphen kann kein Mensch entziffern. Er liegt mehrere Tage einsam auf dem Fensterbrett, neben den Lidschatten und Lippenstiften.
Erst nach einer Woche lasse ich mir von Marian den Brief übersetzen.
Mein Vorschlag, meine Bitte, als Gast eine deutsche Schule besuchen zu dürfen, wurde positiv aufgenommen und somit erlaubt. Nicht nur das. Eine Empfehlung von einem nahe gelegenen Gymnasium liegt bei. Wie paradox. Zu Hause bin ich vor der Schule weggelaufen, hier freue ich mich, wenn sie mich reinlassen. Woher kommt plötzlich diese Disziplin, diese Vernunft?
Das ist fantastisch, denke ich. Wenn nicht ausgerechnet jetzt meine liebste Großmutter von uns gegangen wäre. So ist die Freude nur eine halbe Freude.
»Lydia, Lydia, stell dir vor, wir dürfen in die Schule gehen, in eine deutsche Schule, in ein Gymnasium!«
Ich laufe auf sie zu, als sie meinen Weg in einem der Gänge kreuzt.
»Ja, das ist schön für dich«, antwortet sie weniger begeistert.
»Wir beide! Wir beide gehen hin! Sie werden sicher nichts dagegenhaben, dass wir beide kommen! Wir sind doch fast gleich alt, beide aus dem gleichen Lager, warum sollten sie was dagegenhaben! Du kommst selbstverständlich mit. Ohne dich gehe ich nicht dorthin!«
»Und was tun wir dann dort?«
»Nichts! Zuhören, Deutsch lernen!«
»Lenko, du bist ja völlig bekloppt, was soll ich denn dort? Wozu soll ich denn Deutsch lernen, wenn wir nach Amerika gehen wollen? Ich hasse Deutsch, es klingt wie Holzhacken.«
»Meine Güte, du bist genauso blöd wie all die anderen. Lydia! Entschuldige, dass ich so deutlich bin. Du bist keinen Deut besser als die anderen, die hier auf ihren Ärschen sitzen, saufen, sich die Köpfe vollrauchen und warten, bis ihnen gebratene Tauben direkt in die Mäuler fliegen. Du vergeudest deine Zeit, du wirst hier noch alt, du Märchenprinzessin, das sage ich dir. Und wer weiß, vielleicht bekommt ihr kein Asyl für Amerika und müsst euch mit einem Asyl im langweiligen Deutschland abfinden, was sagst du dann? Gewöhn dich jetzt schon mal ans Holzhacken, du Waldschrat. Rumgesessen und durchgefurzt! Das war dann alles, was du hier getan hast. Vielleicht wartest du mit deinen Alten noch Jahre in diesem verdammten Schuppen! Lern wenigstens eine Sprache!«
»So ein Scheiß! Lass mich doch in Ruhe!«, verteidigt sich Lydia.
Doch ich gebe nicht nach.
»Du weiß doch ganz genau, dass hier manche armen Schweine jahrelang auf
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