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Paradiessucher

Paradiessucher

Titel: Paradiessucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rena Dumont
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schade, dass sie sich selber so aussortiert, wahrscheinlich ist es immer so bei ihr gewesen, und wahrscheinlich wird es immer so bleiben. Ich werde nichts unternehmen. Es ist ihre Entscheidung.
    Still sitzt sie in der Pause auf ihrem Platz und notiert etwas.

DIE RUTSCHPARTIE IST DAS BESTE
    Es schneit und schneit. Die Bergspitze, auf der dieses Gymnasium samt Internat wie eine Mütze sitzt, ist mit einer weißen, strahlenden Schneeschicht bedeckt, und wir wollen bei dem Anblick Juchheissassa rufen. Schön sieht es aus. Noch nie habe ich einen solchen satten Winter erlebt.
    »Ihr zwei, es gibt eine Abkürzung, die direkt nach Königssee führt. Wusstet ihr das? Man kann sogar runterrutschen, wenn man einen Schlitten hat …«, sagt ein anderes Mädchen aus der Klasse, das eine gewisse Integrations-Verantwortung für uns übernommen hat.
    »Schlitten?«
    Lydias Augen fangen an zu strahlen. Klar, solche Blödsinnigkeiten findet sie toll. Sie ist halt ein Jahr jünger, und das merkt man. Ein Baby eben. »Wie kommen wir denn jetzt an einen Schlitten?«
    »Gute Frage.«
    Selbst wenn Mutter das »Erobern« wieder aufgenommen hätte, würde ein Schlitten nicht in ihren Jeansrock hineinpassen. Da das aber, seit Maria im Knast sitzt, längst der Vergangenheit angehört, hat sich die Angelegenheit von selbst erledigt. Kaufen können wir uns ebenfalls keinen.
    Lydia schaut mich spitzbübisch an, zieht aus ihrem Rucksack eine alte Aldi-Tüte heraus und lehrt sie aus. Eine geniale Idee. Wir rutschen jubelnd auf den Tüten den schmalen Pfad hinunter, durch den Wald und die ganze wunderschöne, verschneite Berglandschaft. Der liebe Gott hat sich zu uns gebeugt und uns mit einer Prise Kindheit und Unbekümmertheit bestäubt. Der Alltag wird vom wahren Leben erleuchtet.
    Die Tannen tragen tonnenschwere Schneemassen, und wenn sich mal was vom Ast löst, bekommen wir kreischend einen nassen Kragen. Ab und zu gehen wir zu Fuß, da der Weg nicht steil genug ist. Die Aldi-Tüten zerreißen nach und nach, die Rutschpartie dauert schon beinahe zwei Stunden, die Kleidung ist durchnässt, egal, wir lachen ununterbrochen. Es ist so spaßig und großartig, dass sich alle weiteren Debatten zum Thema »nicht mehr in die Schule gehen« erübrigen. Dieses Spaßes halber hält Lydia endgültig die Klappe. Die Sonne scheint uns prächtig in die Gesichter, die langen Haare wehen im Wind, und wir fühlen uns glücklich.
    Glücklich!

MAGGISTÖPSEL UND PETZIBÄLLE KOMMEN GUT AN
    Mark, ein Junge aus unserer 9. Klasse, bildet zwischen uns und den höheren, den viel interessanteren Jahrgängen, eine Brücke. Er ist blond, mit weißen Albinowimpern. Das schadet seinem Äußeren keineswegs. Mark ist sehr attraktiv. Die zwei Jahre, die er jünger ist als ich, also ein Jahr jünger als Lydia, stören uns nicht. Er wirkt reif für sein Alter. Dafür hat er nur Quatsch im Kopf, wie ein Kindergartenkind. Ihm verdanke ich, dass Wörter wie geil, Scheiße, Furz, Arschloch, Wichser und Ähnliches mein Sprachrepertoire bereichern. Durch seine Selbstverständlichkeit, oder Dreistigkeit, gilt er als »cool«, damit ist es ihm erlaubt, mit den Abiturienten schon mal einen Joint, oder wie sich diese Dinger nennen, zu rauchen, und da er noch dazu im Internat wohnt, verbringt der Kölner mit den Älteren mehr Zeit als mit Gleichaltrigen.
    Die Abiturienten zeigen ein besonderes Interesse daran, dass wir bei ihrer Party erscheinen, heißt es. Vielleicht, weil wir im Vergleich zu den anderen aus der Klasse recht fraulich wirken. Titten hat dort noch keine, Lydia dagegen hat zwei Petzibälle. Oder es muss eine seltsame, melancholische Ich-bin-ein-Ostblockopfer-hilf-mir-Art sein, die auf ein junges deutsches Herz anregend wirkt. Anders kann ich es mir nicht erklären. Manchmal summen diese deutschen Herzen wie Hummeln um unsere Klassentür herum, schnuppern und schauen neugierig herein, betrachten uns wie Museumsstücke oder sprechen uns auf dem Schulflur an.
    Bin ich schön? Manchmal. Wenn ich mich gern habe. Wenn ich länger als drei Stunden geschlafen habe. Also bin ich selten schön. Wenn etwas Besonderes geschehen soll, schlafe ich nicht. An solchen Tagen graben sich die Augenringe besonders tief in mein Gesicht. Ich möchte alle Spiegel, die mir in die Quere kommen, zerschlagen.
    Eine gute Figur habe ich. Keine Titten, aber das gleicht Lydia aus. Ich besitze nur zwei Maggistöpsel, wie es unser Zimmernachbar so treffend ausgedrückt hat. Ansonsten habe ich eine gute Figur.

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