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Paradiessucher

Paradiessucher

Titel: Paradiessucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rena Dumont
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schlechtes Gewissen in unsere Köpfe implantieren möchte, finde ich nicht fair. Immer dieses Rumgerede. Jarek schreibt doch sonst nicht so sulzig. Wir brechen trotzdem in Tränen aus, denn im Kern steckt sicherlich etwas Wahres. Es ist beklemmend zu wissen, dass unsere geliebte Oma so krank ist und dass wir sie vielleicht nicht mehr wiedersehen werden, ein schier unerträglicher Gedanke. Dass wir ihr nicht beistehen, ihre Hand halten, sie streicheln, ihr Trost spenden und einfach für sie da sein können. Mama schimpft, dass das Krankenhaus in Pùerov so schlecht ist, hoffentlich hat sie keine unangenehmen Vogelscheuchen als Krankenschwestern. Schade, dass sie nicht mit uns hier sein und sich von den Spitzenmedizinern in Deutschland behandeln lassen kann. Sie sucht einen Schuldigen. Unser geliebtes, süßes Omachen tut uns so sehr leid, dass das Herz in tausend Stücke auseinanderspringen möchte. Was geht wohl in ihr vor? Was denkt sie wohl? Hat sie Angst oder freut sie sich auf den Tod?
    Ich erinnere mich an ein Ereignis, das natürlich nicht im Geringsten mit dem Leid meiner Großmutter zu vergleichen ist. Ich erinnere mich, wie ich damals dachte: »Lieber Gott, lass mich sterben.«
    Es war vor zwei Jahren. Da wollte ich sterben. Es war nicht harmlos, denn an so einer Fleischvergiftung kann man tatsächlich sterben. Sie kam von einer abgelaufenen Dose Leberwurst. Das muss es gewesen sein, anders kann ich es mir bis heute nicht erklären. Der Deckel der Dose war nach außen aufgebläht, doch da der Geruch nichts Unangenehmes verriet, aß ich sie gierig auf, gemeinsam mit meinen drei Freundinnen aus der Klasse. Aber das Fleisch war schlecht, und die Vergiftung machte sich drei Stunden nach dem Verzehr bemerkbar. Kotzen, kotzen, kotzen war angesagt. Der arme Busfahrer musste meinetwegen an jeder Ecke halten (unsere Klasse befand sich damals auf einem Schulausflug). Vor all den Zuschauern hinter den Glasscheiben des Busses würgte ich alles aus, was möglich war, doch auch als nichts mehr kam, als mein Magen absolut leer war, ließ die Übelkeit nicht nach, im Gegenteil, sie wurde immer schlimmer.
    Wir kamen wieder zu Hause an. Ich schleppte mich langsam, meinen Rucksack auf dem Boden hinter mir herziehend, nach Hause und würgte dabei in jeden Mülleimer, den ich unterwegs fand. Die Suche nach dem Mülleimer hätte ich mir aber sparen können, es kam nichts mehr aus mir heraus. Meine Energie schwand dahin. Wie ein Auto ohne Benzin kehrte ich in Zeitlupe nach Hause zurück. Mutter schrie auf, als sie mich sah, und zerrte mich in die Wohnung.
    »O Gott, Kind! Kind! Was ist mit dir passiert!«, rief sie entsetzt.
    Wäre ich nicht so schwach gewesen, hätte sie mich aus lauter Verzweiflung geschlagen, weil ich nicht antwortete. »Sprich! O Gott, sprich! Wer hat dir das angetan? Sprich, was ist passiert! Du siehst schrecklich aus!«
    »Ich kann nicht mehr stehen, Mama … ich weiß nicht … mir ist so furchtbar schlecht. Ich möchte nur brechen, hab aber nichts mehr im Magen.«
    Mutter schlug die Hände überm Kopf zusammen und betrachtete mich mit verzerrtem Gesicht.
    »O Gott! Kind! Gebrochen? Was hast du gegessen?« Ihre Stimme wurde weinerlich und zittrig.
    »Nichts Besonderes. Rohlík mit der Leberwurstpastete, die du mir als Proviant eingepackt hast.«
    »Großer Gott! Und was noch?«
    »Nichts sonst.«
    »Schokolade, Eis, Eier?«
    »Morgens Rührei mit geräuchertem Speck, zum Frühstück. Mami, hilf mir, mir ist so schlecht!«
    »Wann hat das angefangen?«
    »Den ganzen Tag geht das schon so.«
    Meine Stimme wurde so leise, dass sie das letzte Wort kaum verstand.
    »Das könnte auch das Frühstück gewesen sein! Das Fleisch! Das Fleisch! Das verfluchte Fleisch!«
    Sie nahm mich fest in die Arme und drückte mich, als sollte es das letzte Mal in unserem Leben sein. »Du legst dich sofort ins Bett, und ich rufe im Krankenhaus an. Vielleicht sollte ich dir einen Kamillentee kochen.«
    Sie überlegte eine Weile. »Ja, das ist eine gute Idee, ich koche dir einen Kamillentee, Leniçko.«
    Sie deckte mich zu, nein, sie wickelte mich ein wie eine Mumie und schaute mir besorgt in die Augen. Ihre Hände zitterten, das konnte ich noch erkennen, ihre vielen goldenen Ringe und die rosa lackierten Fingernägel glitzerten im Schein der Nachttischlampe. Danach kochte sie in Rekordgeschwindigkeit den Tee und telefonierte.
    »Der Arzt wird bald da sein«, sagte sie beinahe freudig, als wäre die ganze Strapaze beendet. »Versuch

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