Paragraf 301
sagte Schlüter.
»Alles Scheiße«, sagte Clever, die Ellbogen auf den Knien.
»Allah sei seiner Seele gnädig«, sagte Zekiye leise, die Hände zwischen den Knien.
Irgendwann kehrte Barut zurück. »Allah sei seiner Seele gnädig«, sagte er mit belegter Stimme, setzte sich in seinen Sessel und hörte, eine Hand vor den Augen und in der anderen eine neue Zigarette, Schlüters Bericht an.
Kurz darauf befanden sie sich, ohne Tee getrunken zu haben, wieder auf der Straße. Barut hatte bestimmt, dass die Reisenden bei ihm zu Abend essen und nächtigen würden, Schlüter versuchte höfliche Einwände, aber Barut wies diese mit großer Bestimmtheit zurück. Adaman sei ein sehr guter Freund von ihm gewesen, vielleicht der beste, den er in Sivas gehabt habe, also seien auch sie seine guten Freunde, und es komme überhaupt nicht infrage, dass er sie in einem Hotel schlafen lasse. Seine Frau werde sich freuen, die Gäste zu bewirten. Er habe genug Platz und heute Abend habe er ausnahmsweise keinen Kurs, erst morgen wieder.
Baruts Wohnung befand sich im Erdgeschoss eines vierstöckigen Hauses in einer Seitenstraße des Inönü Bulvarı, jenseits des Bücherladens, an dem sie erneut vorbeigingen. Frau Barut begrüßte Zekiye Kaya mit einem Wangenkuss und Schlüter war erstaunt, als sie ihm und Clever, der plötzlich schüchtern geworden war, ganz selbstverständlich einen festen Händedruck gab.
»Nice to meet you. How do you do?«, begrüßte sie die Gäste in perfektem Englisch.
Sie war schlank, trug eine Hose und zeigte den Männern ihre Brüste unter einem engen Pullover, sie hatte wallende schwarze Haare und grüne Augen; ein Kopftuch trug sie nicht. Zwei Mädchen im Grundschulalter versteckten sich hinter der Mutter zwischen den Jacken an der Garderobe. Barut zog sie hervor, strich ihnen zärtlich über die Köpfe, stellte sie als »my angels« vor und war erst zufrieden, als sie alle drei Gäste artig begrüßt hatten.
»This is my wife, Fatma«, sagte Osman Barut.
»I am Peter.« Pieter sagte Schlüter.
Zekiye Kaya stellte sich auf Türkisch vor. Sie könne so gut wie kein Englisch, erklärte sie auf Deutsch.
»Paul«, sagte Paul Clever trocken und streckte noch einmal seine Hand aus. »Ihr könnt mich Paul nennen.«
Im großen Wohnzimmer gab es ein blaues Sofa, mehrere blaue Sessel, Bilder an den Wänden und einen Fernseher und im hinteren Teil des Raumes einen Tisch mit Stühlen vor einem wandfüllenden Schrank, neben dem ein goldenes Schild mit eingravierter arabischer Schrift hing.
»Dieses Land ist eine Katastrophe«, sagte Barut traurig, als sie eine Stunde später, der Wagen war geholt und um die Ecke abgestellt worden, nach dem Begrüßungstee bei laufendem Fernseher um den großen Tisch saßen, bei Tavuk, Pilaw, Kichererbsen, Salat und Börek und Ayran aus zinnernen Trinkgefäßen. »Wir werden noch ein paar hundert Jahre brauchen, bis wir in Europa angekommen sind.«
Draußen hatte die Nacht dem Tag die Augen ausgestochen.
Der Tod von siebenunddreißig Menschen im Hotel Madımak am 2. Juli 1993 sei eine Schande für das Land, und er schäme sich für die Stadt und ihre Einwohner und auch für sich selbst, für den Tod der Menschen. Veli Adaman sei sein Freund geworden, nach jenem Tag, viele Abende sei er ihr Gast gewesen, bevor er fort sei, erzählte Barut, Allah möge seiner Seele gnädig sein. Er hörte auf, alles, was er sagte, ins Türkische zu übersetzen, es sei zu anstrengend, lachte er, und außerdem würden gewisse Ansichten, die er habe, bei bestimmten Leuten nicht gerade Begeisterung auslösen, »but you are a man of justice, my friend«, sagte er zu Schlüter, »you have to know everything«. Barut vermied es, Zekiye bei diesen Worten anzusehen und lächelte stattdessen seine Frau an.
»There shall not be violence in belief, our holy book says«, sagte Barut. »Doch was machen wir mit den Leuten?«
Tja, was machten sie mit den Leuten?
»Was macht den Glauben der Aleviten eigentlich aus?«, fragte Schlüter und erinnerte sich an Adaman, wie er im Bosporus erzählt hatte. Aber seien Sie nachsichtig mit ihm, er glaubt, uns zu kennen, und doch weiß er nichts von uns.
»Sie sind Muslime, wie wir«, antwortete Barut.
»Und wo sind die Unterschiede?«
»Sie gehen nicht in die Moschee.«
»Sie beten nicht?«
»Doch, aber das tun sie zu Hause.«
»Ist das alles? Sie haben doch eine eigene Religion?«
Die Aleviten hätten keine eigene Religion, widersprach Osman, sie seien
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