Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
Vom Netzwerk:
Muslime wie alle anderen. »Wir sind alle Brüder, verstehst du?« Nur die Buchreligionen seien eigene Religionen, die anderen, na ja, ein bisschen Folklore … Osman lächelte überlegen. »Aber sie haben den falschen Propheten«, fügte er hinzu.
    »Da sind die Aleviten anderer Meinung.«
    »Das mag sein. Aber das ist falsch. Sie haben den falschen Propheten!« Osmans Stimme hatte einen bösen Beiklang.
    Ob die Aleviten keine Versammlungshäuser hätten?, fragte Schlüter. Eines, antwortete Barut. Ob sie nicht weitere Häuser haben wollten? Nicht dass er wüsste, meinte Barut, die Leute würden doch zu Hause beten, wozu bräuchten sie dann extra Häuser? Aber dieser fürchterliche Tag vor bald zwei Jahren …
    Ob das mit den satanischen Versen zu tun gehabt habe, fragte Schlüter, wie ihm der Vater von Frau Kaya berichtet habe?

    »O ja!«, bestätigte Osman. Aziz Nesin, der an der Versammlung der Aleviten teilgenommen habe, leider ein Atheist und ein umstrittener Mann, der habe Die satanischen Verse in der Türkei herausgebracht, ein grässliches Buch, für das die iranischen Mullahs ein Todesurteil gefällt hätten über den Verfasser und seine Helfer, auch über Nesin, den Herausgeber, und das in einem zivilisierten Land mit uralter Kultur, die so alt sei, da hätten sie in Europa, abgesehen von Griechenland vielleicht, noch auf den Bäumen gesessen, und hier in Sivas hätten die Imame die Gläubigen aufgehetzt, ohne eine Zeile des Buches zu kennen, besonders die zwei, die in der Ulu Camii predigen würden, eine Moschee, die er, Osman Barut, seit dem 2. Juli 1993 nicht mehr betreten habe, und wenn es hundert Mal stimme, dass der heilige Hızır dem vormaligen Imam an zwei aufeinanderfolgenden Tagen an der 31. Säule erschienen sei, ein Ereignis, das den Ruf dieser fast tausend Jahre alten Moschee noch weiter schallen ließ, aber dennoch: Er würde sie so lange nicht betreten, wie diese verantwortungslosen Gesellen dort predigten, die nichts von der Toleranz des heiligen Hızır wüssten, denn der sei ein Samariter gewesen und habe jedem geholfen, egal, welchen Glaubens er war; diese Imame, von denen der eine wie ein Geck herumlaufe in weiß glitzernden Anzügen, und auch der andere sei eitel wie sonst was, das würde man ja schon an seinem Bart sehen, den er sich alle zwei Stunden stutze, nein, die wolle er, Osman Barut, nicht mehr anhören. Zwar sei das Buch des Herrn Rushdie schwere Kost für einen rechtschaffenen Muslim, er selbst habe auch sehr schlucken müssen, als er es gelesen habe, auf Englisch übrigens, wie er über »unseren Propheten hergezogen« sei, aber wer für Meinungsfreiheit eintrete, und seit er in England gewesen sei, trete er dafür ein, der müsse das aushalten, egal ob das Buch sonst tauge oder nicht. Und er, Osman Barut, behaupte: Das Buch tauge nichts, da habe jemand einen Wälzer vollschwadroniert, wer wolle dem schon durch seinen Irrgarten folgen? Osman zündete sich erbost eine neue Zigarette an, obwohl sie noch längst nicht mit Essen fertig waren, und sah Schlüter erwartungsvoll an.

    Dass dieser Mann Christas Urteil über das Buch teilte, ja, dass er es gelesen hatte, erfüllte Schlüter mit heimatlicher Freude und freundschaftlichen Gefühlen.
    Dann fing Osman plötzlich an, türkisch zu reden, und als Schlüter ihn fragte, ob er nun alles übersetzt habe, erklärte Osman, natürlich habe er alles übersetzt, insbesondere, dass die Große Moschee eine wunderbare Atmosphäre habe, zu Recht sei der Imam stolz darauf, dass sie in der Moscheenatmosphärenweltrangliste auf Platz sechs rangiere, er habe Frau Kaya gerade empfohlen, sie morgen unbedingt zu besuchen. Ein kühles Lächeln erschien in Osmans rundem Gesicht.
    Schlüter fragte, ob er, Osman, an dem üblen 2. Juli in der Moschee gewesen sei?
    Ja, antwortete Osman und redete weiter auf Englisch, das habe er doch gerade gesagt, er habe am besagten Tag die Freitagspredigt gehört, eine Hass- und Hetzpredigt sei das gewesen, eine Aufforderung zu Gewalttaten, eine Anstiftung zum Mord, und auch er sei der Masse zur Belediye Sokak bis vor das Hotel gefolgt, mit einem Sausen im Magen, er habe abends noch einen Kurs abhalten wollen, das Hotel liege ja nebenan, und dann erzählte er, wie er Veli Adaman am Fenster ganz links im ersten Stock entdeckt und geholfen habe, dass der Mann nicht verbrenne, und wenn nicht auch andere geholfen hätten, sogar welche, die vorher noch gebrüllt hätten, man müsse die Aleviten töten, dann wäre

Weitere Kostenlose Bücher