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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Adaman schon damals umgekommen. Allah habe ihn, Osman Barut, vor das Hotel geführt, damit er Adaman habe helfen können, und Allah habe »you, my friends« hierher geführt, damit er auch ihnen helfen könne. Denn Allah hat Macht über alle Dinge.
    Osman hatte sich in Fahrt geredet. Fast vergaß er zu essen.

    Die Religionsgelehrten hätten zu viel Macht, behauptete er, sie würden seit Jahrhunderten über Spitzfindigkeiten streiten, zum Beispiel über die korrekte Berechnung der Gebetszeiten, nämlich wann das Nachmittagsgebet stattzufinden habe: wenn der Schatten eines senkrechten Gegenstandes gleich sei der Schattenlänge zu Mittag zuzüglich der wahren Länge des Gegenstandes, wie es die Rechtsschulen der Schafii ten, Malikiten und Hanbaliten vertreten würden, oder aber, wie die Rechtsschule der Hanifiten behauptete, wenn der Schatten eines Gegenstandes gleich der doppelten Länge des G egenstandes zuzüglich der Schattenlänge zu Mittag sei, »Do you understand that?«. So genau, meinte Osman, komme es nicht auf die Einzelheiten an.
    So ging der Abend hin.
    Clever blieb schüchtern und fast wortlos; dies war nicht das Terrain, auf dem er sich bewegen konnte. Religion interessierte ihn nicht und das Jüngste Gericht nur insoweit, als man es essen konnte. Er fragte nicht nach Übersetzungen. Immerhin hatte er sich, mit Zekiyes Hilfe, mutig die Rezepte von der Frau des Hauses erklären lassen, insbesondere die Fertigung von Börek, er lobte das Essen und versprach einen türkischen Abend, sobald sie wieder zu Hause seien. Das erinnerte Schlüter an sein verwaistes Büro, es kam ihm unwichtig und fern vor. Gleich morgen würde er Angela anrufen, nahm er sich vor.
    Die beiden Mädchen hatten die Gäste aus großen Augen still beobachtet, dem dreisprachigen Gespräch gelauscht und sich nach der Mahlzeit vor dem Fernseher auf dem Sofa unter eine Wolldecke gekuschelt, wo sie schließlich eingeschlafen waren. Die Eltern warfen immer wieder zärtliche Blicke hinüber und Fatma ging hin, um die Decke über drei nackte Füße zu ziehen.
    »Wie oft gehen Sie in die Kirche?«, fragte Osman.
    »Nie«, antwortete Schlüter.
    Osman hob entsetzt beide Arme. »Aber das geht nicht!«, rief er. »Man muss doch beten!« Das Gebet in der Moschee helfe ihm, ein besserer Mensch zu sein, keine Frage, und er, Schlüter?
    Schlüter erklärte, da sei er ein wenig wie dieser Nesin, und dann fragte er Osman, ob er sich vorstellen könne, dass die beiden schlafenden Engel da drüben auf dem Sofa als Sünderinnen geboren seien? Osman hob ein zweites Mal entsetzt beide Arme, unmöglich seien seine Engel Sünderinnen, Kinder seien frei von Schuld und Sünde, wie ein Engel, und Sünden könne ein Mensch erst begehen, wenn er für sich selbst verantwortlich sei, und vor der Pubertät sei das gar nicht möglich, ganz ausgeschlossen, wer könne so einen »bullshit« behaupten?
    »Die christlichen Kirchen«, antwortete Schlüter. »Erbsünde nennen sie das.«
    »Was?«, fuhr Osman auf. »Das habe ich nicht gewusst! Erbsünde? So was gibt’s nicht, das schwöre ich! Aber beten muss man«, beharrte er. »Deshalb gehe ich in die Moschee. Zumindest jeden Freitag. Ich gehe seitdem in die Aliag a Camii , die ist gleich bei meinem Institut um die Ecke.« Nicht in die Ulu Camii und zu ihren Imamgecken.
    Fatma lächelte und Schlüter zuckte hilflos die Schultern. Osman ging einfach in eine andere Moschee, Schlüter war heimatlos. Nein, er betete nicht. Und er teilte nicht den Glauben an die Erbsünde, der die Menschen davon abhielt, die Welt zu verbessern.
    Osman erzählte von seinen Plänen; er halte es in dieser Stadt, die sowieso viel zu kalt sei, nicht mehr lange aus, sie würden hoffentlich bald nach Antalya gehen, wo man auch Menschen aus aller Welt treffen könne, mit denen man englische Konversation machen könne, hier in Sivas sei die Welt vernagelt, die Geschehnisse des 2. Juli lägen wie ein Fluch über der Stadt, die Verwaltung habe es abgelehnt, das Hotel zu einem Mahnmal zu machen oder wenigstens einen Gedenkstein errichten zu lassen, mit den Namen der Ermordeten, wie es die Aleviten verlangt hätten, nein, das Hotel werde wieder aufgebaut, das Böse werde verdrängt, es glühe weiter unter der Asche, fange erneut an zu brennen, wenn einer käme und auflegen, die Flamme anfachen würde, das Böse wachse im Dunkel unter der Asche wie ein Dämon, man müsse ihn ans Licht zerren, sein Feuer löschen mit dem klaren Wasser der Wahrheit, aber nichts

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