Paragraf 301
Bulvarı, dort würden sie ihn wohl treffen. Der Mann kam hinter seinem mit Büchern, der Kasse und Papieren voll gestapelten Tresen hervor, ging zum hinteren Teil des Ladens, öffnete dort eine Luke im Fußboden, verschwand im Keller und tauchte nach drei langen Minuten mit einem Papprohr wieder auf, aus dem er einen riesigen Stadtplan zog. Er bestand darauf, ihn zu verschenken, wollte kein Geld, nein, unter keinen Umständen, sie seien seine Gäste, erklärte sich aber damit einverstanden, den wichtigsten Teil des Stadtplanes, das Zentrum, zu kopieren, brachte einen Kopierer in Gang, der hinter einem der Regale mitten im Raum stand, kehrte stolz mit einem Blatt Papier zurück, auf dem er, wieder hinter dem Tresen, den Buchladen und die Straße, in der das Institut zu finden war, markierte. Er drückte das Blatt Clever, den er für den Chef der Truppe hielt, in die Hand.
»Tesekkür«, sagte Kaya.
»Tesekkür«, sagte Clever.
»Te-te-tesekkür«, sagte Schlüter.
»Sagol«, sagte Clever und grinste überlegen.
»Was hieß denn das?« fragte Schlüter, als sie wieder in der Sonne standen.
»Danke«, warf Zekiye ein, während Clever immer noch grinste.
»Und tesekkür?«
»Auch danke.«
»Eigentlich heißt sagol wörtlich übersetzt: Ich wünsche dir ein langes Leben«, ergänzte Clever.
»Können Sie etwa Türkisch?«, fragten Schlüter und Zekiye wie aus einem Munde.
»Ich kann alles«, antwortete Clever, ohne mit der Wimper zu zucken, während er den Stadtplan achtlos faltete und in seine Jeanstasche schob. Wenn man im Knast war …
»Yallah! Lasst uns gehen, bevor wir wieder angequatscht werden.« Clever setzte sich zielstrebig in Bewegung, zurück auf die andere Straßenseite, wo sie Tee getrunken hatten, und weiter den Inönü Bulvarı entlang.
Schlüter hätte ihn gern gefragt, woher er die richtige Richtung wusste, und sich den Stadtplan angesehen, aber dann konstatierte er, wie himmelhoch ihm dieser Knastbruder überlegen war, wenn es um den Kontakt mit fremden Völkern und die Orientierung in fremden Städten ging. Es mochte sein, dass Clever weder mit Alkohol noch mit Frauen umgehen konnte, aber alles andere …
36.
Die Bürgersteige des Inönü Bulvarı waren jetzt breiter und sie kamen schneller voran. Clever erhöhte das Tempo, sie wurden nicht mehr angesprochen, aber Schlüter spürte die neugierig-freundlichen Blicke, die man den beiden fremden Männern zuwarf, in deren Kielwasser eine türkische Frau mit Kopftuch folgte. Wir sind hier wie die Weißen in Togo, dachte Schlüter.
Clever ging, zielstrebig wie bisher und ohne den Stadtplan in der Gesäßtasche seiner Jeans zu konsultieren, vor ihnen her. Es blieb nichts anderes übrig, als weiter hinter ihm herzulaufen. Er überquerte den Inönü Bulvarı und sie passierten einen Park, hinter dessen Bäumen kathedralenähnliche, filigran verzierte Türme in Sicht kamen und ein kastenförmiger Bau, aus dem der graue Penis des Minaretts ragte. Oben hingen die Lautsprecher. An einem Brunnen saßen Männer, einige hatten ihre Schuhe ausgezogen und wuschen sich die Füße, andere Arme und Gesicht: Waschet euer Gesicht und eure Hände bis zu den Ellbogen und wischet eure Häupter und eure Füße bis zu den Knöcheln ab. In den Verkaufsbuden am Rande des Parks wurden Brezeln, Maronen und Süßigkeiten feilgeboten. Sie waren am Atatürk Platz angelangt, wie Clever den Kreuzungspunkt der großen Boulevards der Einfachheit halber nannte, denn auf dem Stadtplan, auf den er Schlüter endlich einen Blick werfen ließ, hieß der Ort Vilayet. Drüben standen mächtige Verwaltungsgebäude. Clever führte sie weiter, am Rande des Platzes entlang bis vor die gläsernen Fassaden der Geschäftshäuser zur Mündung des Atatürk Bulvarı , einer langen, leicht abschüssigen Geschäftsstraße. Nach weiteren zwanzig Metern blieb Clever vor einem Dönerimbiss stehen.
»Da drüben ist es«, sagte er und nickte der anderen Straßenseite zu. »Wir sind da.«
Schräg gegenüber mündeten zwei Straßen wie ein V auf den Atatürk Bulvarı. Am zweiten Gebäude der Häuserzeile in der hinteren der beiden Straßen hingen große Buchstaben einzeln an der Fassade, vom ersten bis dritten Stockwerk: Oteli Madımak.
Ein Schild am Eckhaus: Belediye Sokak hieß die Straße.
Ein Metallzaun riegelte das Hotel ab. Die Fenster des Hauses waren von innen mit Brettern vernagelt, an der Fassade schwarze Brandspuren bis hinauf in den obersten Stock. Hinter dem Zaun Stapel von
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