Paragraf 301
dergleichen geschehe – auch deshalb wolle er fort nach Antalya, dort gebe es mehr Freiheit in Gedanken und Rede, »I think you understand, my friend, because you are the man of justice«, sagte Osman traurig, »even if you don’t pray«, und vielleicht könne seine Frau dort auch wieder als Englischlehrerin arbeiten, sobald die Kinder aus dem Gröbsten heraus seien, hier in Sivas gebe es zu wenig Leute, die Englisch lernen wollten. Schlüter, der Mann der Gerechtigkeit, nickte, und er hätte gern mit einem Rotwein auf die neue Freundschaft angestoßen, vielleicht auch mit Raki, denn er war gerührt. Aber sie befanden sich in einem ordentlichen alkoholfreien sunnitischen Haushalt, und so hob er sein Teeglas und stieß es an Osmans und trank, als wäre es Wein.
Sie besprachen den Plan für den nächsten Tag. Höchstens zwei Tage könnten sie in Sivas verbringen, sagte Schlüter, spätestens übermorgen müssten sie aufbrechen nach Dersim.
»Dersim?«, fragte Osman. »Tunceli meinen Sie?«
»Ja, Tunceli.«
»Versprich mir eins, lieber Freund, sage niemals Dersim in diesem Land. Das ist Separatismus, man könnte Sie … und außerdem herrscht dort Krieg! It’s a no go area. You must not go there!«
Darüber werde noch zu sprechen sein, murmelte Schlüter, obwohl ihm das Herz pochte. Heute Vormittag hatte Clever das gleiche Wort benutzt: Krieg. Osman redete weiter und jetzt übersetzte er wieder, er habe morgen Vormittag verschiedene Termine und abends Unterricht, aber am Nachmittag könne er ihnen helfen, etwas über Emin Gül und seine Aktivitäten am 2. Juli 1993 zu erfahren, womöglich den Mord an Veli Adaman, Allah sei seiner Seele gnädig, aufzuklären, denn dies sei seine Pflicht als guter Muslim.
Fatma wies den Reisenden ihre Betten, die Zimmer lagen im ersten Stock, und es war weit nach Mitternacht, als Schlüter im Finstern auf dem Gästediwan lag und die Eindrücke des Tages in seinem Kopf wirbelten: die zweite Nacht in dem fremden Land, aber noch beschützt von Veli Adaman und seinen Informationen. Aber was kam danach? Wie würde es weitergehen auf dieser verrückten Reise?
Draußen hörte er einen Wind durch die Gassen gehen, nackt und auf erfrorenen Füßen.
37.
Als man in der Morgenröte einen weißen Faden von einem schwarzen Faden unterscheiden konnte, wachte Schlüter auf. Der Gebetsruf schallte von mehr als siebzig Minaretten durch alle Viertel, Straßen und Gassen der Stadt und bis in die Keller und Innenhöfe, durch die Türen, Fenster und Ritzen einer jeden Wohnstatt, der Ruf weckte Reich und Arm, die Gottesfürchtigen und Gottlosen gleichermaßen, ob sie es wollten oder nicht. Schlüter wollte nicht beten, konnte aber nicht mehr einschlafen, sah immer wieder auf seine Uhr, wartete, bis es endlich sieben geworden war, und stand auf. Im Badezimmer klappte es mit dem Pinkeln schon besser als gestern. Man musste die Hosen weit herunterlassen, bis auf die Fersen, in die Hocke gehen und die Hose in der Mitte hochhalten, damit man sich nicht draufpinkelte, eine orientalische Haltung, die der Europäer nicht beherrscht, weil ihm die Sehnen und Muskeln fehlen und vielleicht auch die Demut. Man spülte mit dem Wasser aus der Kanne und füllte sie anschließend aus dem Hahn, der knapp über dem gefliesten Boden aus der Wand ragte. Im Hotel hatte es noch Toiletten wie in Europa gegeben, wo man seine Notdurft auf dem Thron verrichtete und dafür den Hinternschweiß des Vorgängers mitnahm.
Unten traf Schlüter Osman und Fatma, die das Frühstück bereitete: weißes Fladenbrot, zwei Sorten Fetakäse, Wabenhonig, schwarze und grüne Oliven, Tomaten, Gurken, Tee. Die Kinder schliefen noch. Osman zeigte ein zerknittertes Gesicht.
»I talked too much yesterday«, sagte er mürrisch und zog an seiner ersten Zigarette. Er habe so wenig Gelegenheit, offen zu sprechen, und da habe er vielleicht ein bisschen zu viel gesagt. Ob Schlüter sicher sei, dass Zekiye kein Englisch verstehe? Man müsse bedenken, dass sie einiges missverstanden haben könne.
Wenig später befand Schlüter sich auf der Straße. Er hatte darauf bestanden, ohne Begleitung und noch vor dem Frühstück das Haus zu verlassen. Er wollte die Stadt allein erkunden, ihre Gerüche, ihre Atmosphäre schmecken, die Menschen beobachten und in den Straßen umhergehen, damit sie ihre Fremdheit verloren. Der Inönü Bulvarı kam ihm heute eine Spur vertrauter vor. Er sog die Luft ein. Ein stahlblauer Morgen, auf den Wischwasserpfützen vor den
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