Paragraf 301
Steinen, Zementsäcke, Bretter, Eimer, eine Schubkarre. Die Mauern des Erdgeschosses waren aufgerissen, sie blickten in das ehemalige Foyer des Hotels, auf einen Wald von dünnen Rundhölzern, die miteinander verschraubt und vernagelt waren, ein Bau- oder Stützgerüst. Aber kein Mensch arbeitete auf der Baustelle und es sah auch nicht so aus, als wäre in der letzten Zeit jemand aktiv gewesen.
Schlüter drehte sich um und blickte zurück Richtung Gouverneurspalast. Nicht viel Platz für fünfzehntausend wütende Männer. Sie mussten eng gedrängt gestanden haben, die hintersten hatten sicher erst mitbekommen, was passierte, als der Rauch aus dem Gebäude quoll. Hier also hatten sich die Fanatiker versammelt und das Hotel in Brand gesetzt, unter ihnen – vielleicht – Emin Gül, der Asyl in Deutschland bekommen hatte wegen Verfolgung durch den türkischen Staat, und drinnen im Inferno Veli Adaman, der zum zweiten Mal geflohen und nach zwei weiteren, bitteren Jahren in der Illegalität ermordet worden war.
Die Belediye Sokak war eine schmale Gasse, eine Einbahnstraße. Clever zeigte auf ein Reklameschild, das an dem zweiten Haus hinter dem Hotel an der Fassade hing: Enstitüsü Ingilizce , hoch oben am dritten Stock.
»Da finden wir ihn«, sagte er. »Diesen Osman, oder wie der heißt.«
Sie setzten sich wieder in Bewegung, vorbei an einem schmalen Bankgebäude, aus dem ein Mann auf den Bürgersteig trat, ein Bündel Geldscheine in der Tasche verstauend, und dann standen sie vor einer Aluminiumtür mit undurchsichtigem Glaseinsatz, daneben an der Fassade ein Schild mit der Aufschrift: Enstitüsü Ingilizce – Osman Barut.
Clever präsentierte das Ziel ihrer Suche stolz wie einen Schatz: »Bitte sehr!«
Es knisterte in der Luft und sie hörten wieder den Ruf des Muezzins, der durch die Straße hallte. »Wie ’n Gockel mit Potenzstörungen«, flüsterte Clever, damit Zekiye nichts mitbekam, und grinste.
Schlüter schob sich an ihm vorbei und übernahm die Führung, für englische Angelegenheiten war er zuständig. Er stieß die nur angelehnte Tür auf. Im Treppenhaus roch es nach Staub und toten Zigaretten, die Wände aus Beton, unter den Füßen undefinierbar gemusterte Fliesen. Schlüter machte sich an den Aufstieg, der Muezzin war nur noch schwach zu hören. Türenschlagen und Schlüsselklimpern. Schlüter blieb auf dem Treppenabsatz stehen. Neonlicht flackerte auf, Schritte.
Der Mann war von gedrungener Gestalt, er trug einen Anzug und darunter einen quer gestreiften Pullover, dazu einen roten Schlips. Er hatte eine Zigarette in der Hand und alten Schweiß auf der Stirn. Sein breites Gesicht wies ihn als Türken aus.
Schlüter sprach den Mann an: »Excuse me, Sir, we would like to meet Mr Osman Barut …«
»I am the person you would like to meet – may I help you?«, lächelte Barut und streckte die Hand aus.
Er bat die Reisenden, ihm zu folgen, drehte sich um und stieg wieder die Treppe bis in den dritten Stock hinauf.
Kurz darauf saßen sie in schwarzen Ledersesseln im Chefzimmer des Englischinstituts, Barut bot Zigaretten an, alle lehnten ab, er fragte, ob er weiterrauchen dürfe, versprach, sofort Tee zu bereiten, und zog an seiner Zigarette. Dann fragte er nach ihrem Begehr.
»Wir kommen wegen Veli Adaman«, erklärte Schlüter auf Englisch.
»He is a very good friend of mine«, fuhr Barut erfreut auf. »I haven’t heard of him for a long time ago. How is he?«
»He is dead and that is why we are here«, antwortete Schlüter.
Barut starrte Schlüter aus großen Augen an. »No«, sagte er. »It’s not true. It can’t be true!«
»I’m sorry to tell you«, antwortete Schlüter und erläuterte Barut die Umstände von Adamans Tod. Barut hörte mit offenem Mund zu, während er immer wieder den Kopf schüttelte, seine Miene sich verdüsterte und seine Augen sich mit Trauer füllten.
Er vergaß, an seiner Zigarette zu ziehen, und drückte sie schließlich fahrig aus, stand auf, sagte: »Excuse me«, und verließ den Raum.
Sie hörten, wie er im Flur eine Tür hinter sich schloss. Schlüter stellte sich ans Fenster und sah hinaus. Hakan kuaför, las er auf den Reklameschildern auf der Fassade gegenüber, die wie Fahnen in die Straße ragten, Selçuk Hamamı , San-Kay Kuyumculuk ltd . In dem Gebäude schräg gegenüber saßen im zweiten und dritten Stockwerk Männer, die mit blitzschnellen Bewegungen auf runden Tischen schwarze Täfelchen hin- und herschoben.
»Was soll man machen?«,
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