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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Es gab viele solcher Bezeichnungen auf dem Stadtplan: Mevlana M , Çiçekli M und er befand sich jetzt dort, wo Eski Kale M stand. Schlüter zog auch sein Wörterbuch hervor. Stadtviertel hieß Mahalle. Er drehte den Plan, bis er verstand, in welcher Richtung der Stadtteil Yahya Bey lag. Nur ein paar hundert Meter den Atatürk Bulvarı weiter, und dann nach rechts abbiegen …
    Schlüter bezahlte sofort und brach auf.
    Von Weitem schon sah er das Doppelminarett der Meydan Camii und ihre silbern glitzernde Kuppel, die Moscheen schienen die einzigen Gebäude zu sein, die man mit Bedacht schön gestaltete, denn das irdische Leben ist nur ein Spiel und ein Scherz; das jenseitige Haus ist besser für die Gottesfürchtigen.
    Abseits der Prachtstraße herrschte Wirrnis und Chaos. Man wusste nicht, wem die öffentlichen Flächen gehörten: den Autos, den Fußgängern oder den Händlern und ihren ausgestellten Waren. Schlüter bahnte sich seinen Weg, vorbei an Läden, einem Schaufenster mit lila verschleierten Modepuppen, durch die Verkaufsstände, die Häuser waren niedriger geworden, auf den Straßen standen Säcke mit Tee, Früchten und Gewürzen, es lagen Rollen mit Draht herum für die Zäune, Stände mit Werkzeug, Geschirr, riesige silberne Tabletts. Schlüter ließ sich wie ein träges Boot in der Strömung treiben, durch ein hohes Tor in eine Halle hinein, durch deren gläsernes Dach die Sonne leuchtete auf die warmen Farben der Früchte, getrocknete Aprikosen, Pflaumen, Rosinen, auf Walnüsse, Sonnenblumenkerne und Pistazien, auf kunstvoll geschichtete Pyramiden von Tomaten und Okraschoten, Stapel von Granatäpfeln, Gurken, auf Säcke, aus denen grüner, roter, schwarzer, scharfer, schärferer und allerschärfster Pfeffer quoll, Salbei, Minze, Kardamom und Zimt, auf duftige Petersilienberge, Zitronenstapel, Zwiebel- und Knoblauchgebinde, die wie Vorhänge an den Budendächern baumelten, auf Käsezöpfe in Salzlake, auf die toten Augen in gestapelten Schafsköpfen, auf abgehäutete Karnickel, von denen das Blut tropfte, und auf Würste in langen Ketten. Ein Mann schüttete aus einem Sack getrocknete Rosinen auf ein wagenradgroßes Blech, in einem Brunnen plätscherte Wasser und erzählte Märchen, und dann geriet Schlüter vor einen Stand, an dem es außer Trockenfrüchten, Feigen, Bohnen, Erbsen, Nüssen, Kichererbsen und Pilzen in überquellenden Bergen auch Honig und getrockneten Sirup gab, er las pekmez und bal auf den Schildern und schlug die Wörter in seinem Wörterbuch nach. Ein zierlicher Mann mit weißem Käppchen, weißem Bart, langer Jacke und weit durchhängender Tuchhose trat hinter seinem Stand hervor, lächelte und sprach fremde Worte.
    Schlüter zeigte ein ratloses Gesicht und sagte: »Ich kann leider kein Türkisch, ich verstehe Sie nicht.«
    Der Mann kreuzte die Arme vor der Brust, verbeugte sich lächelnd und sagte: »Achmed.«
    Schlüter kreuzte die Arme vor der Brust, verbeugte sich lächelnd und sagte: »Peter.«
    »Peter?«, vergewisserte sich der Verkäufer.
    »Peter. Achmed?«, vergewisserte sich Schlüter.
    Das Lächeln des Mannes wurde breiter und er verbeugte sich wieder mit gekreuzten Armen vor der Brust. »Achmed!«, nickte er. »Alman?«
    »Alman«, nickte Schlüter zurück. Er zeigte auf das Schild, das in einem Block hellbrauner Masse steckte: »Bal?«
    »Evet, Bal.«
    Achmed nahm eine Plastiktüte, er hatte krumme abgearbeitete Finger, bedächtig zog er das Messer aus dem Sirupblock, der aussah wie dunkles Marzipan, schnitt ein kleines Riefchen ab und hieß Schlüter, es zu probieren. Schlüter schmeckte und nickte, und dann schnitt Achmed einen ordentlichen Batzen heraus, spießte ihn auf und blickte Schlüter fragend an, der nickte wieder, die Ware wurde gewogen, eingewickelt, übergeben, Schlüter zog sein Bündel Geldscheine hervor und bezahlte, ohne zu wissen, wie viel er gegeben hatte, weil die Zahlen mit den vielen Nullen ihn verwirrten.
    Er verbeugte sich wieder, kreuzte die Hände vor der Brust, Achmed tat ebenso, sie lächelten sich an, wer weiß, vielleicht könnten wir Freunde werden, dachte Schlüter, verneigte sich ein letztes Mal und spazierte, nun Eigentümer des besten türkischen Honigs, den man in der Türkei kaufen konnte, aus dem gegenüberliegenden Tor aus der Markthalle hinaus ins Freie.
    Wen Allah will, leitet Er irre, und wen Er will, den führt Er auf einen rechten Pfad. Ein geheimnisvoller Faden verband den Dönergrill in Hemmstedt mit der Markthalle in

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