Paragraf 301
Läden Eis. Schlüter knöpfte sich den Mantel zu, steckte die Hände in die Taschen und umschloss mit der einen den Völkermordstein, der ihn an seine Beschlüsse erinnerte und an das Vermächtnis des Veli Adaman.
Wohin sollte er sich wenden? Er zog den Stadtplan aus der Tasche, den er sich gestern noch von Clever hatte geben lassen, und studierte ihn.
»Kann ich helfen?«, sprach es neben ihm.
Wieder ein dunkel gekleideter Rentner, der viele Jahre in Deutschland verbracht hatte, lächelte, Deutschland lobte, und wenn es um diese frühe Zeit schon Tee in den Teestuben gäbe, so lüde er den Herrn gern zum Tee ein, aber Schlüter fand eine Menge höflicher Worte und machte den Deutschen: keine Zeit.
Er zwang sich fortan, so flott zu gehen wie Clever gestern, den Bulvarı hinauf, durchquerte den Selçuk Parkı, achtete aber nicht weiter auf die historischen Gebäude, erreichte den »Atatürk Platz«, setzte fort hinunter den Atatürk Bulvarı, verlangsamte seine Schritte, als er die verbrannte Fassade des Hotels sah, unter dem die Glut des Bösen schwelte, und folgte dem Boulevard, hinein in den Schilderwald, der die Straße bis hoch in die obersten Stockwerke besäumte und sie hinten zu versperren schien.
Er war noch nie allein und ohne jede Hilfe in einem Land gewesen, dessen Sprache er nicht beherrschte. Er war überhaupt selten an fremden Orten gewesen und plötzlich wurde ihm bewusst, dass sein ganzes Leben im eisernen Gleis von Herkunft, Sicherheit und Planung verlaufen war und er nie die Weichen gestellt hatte. Sein Lebenskreis war immer eng gewesen, er hatte sich noch nie auf Situationen eingelassen, in denen er ein Risiko eingehen würde. Als er jetzt an einem Schaufenster vorbeikam, in dem runde Stapel süßen Gebäcks und Bleche goldgelber Küchlein zu sehen waren, hielt er an, fasste sich ein Herz und trat ein. Es war ein schmales Lokal, gleich neben der Eingangstür befand sich der Verkauftstresen, dahinter eingequetscht ein dicker Mann, dessen breites Gesäß den Hocker verbarg. Schlüter bedeutete durch Zeichen, welches Gebäck er haben wollte, und schon saß er an einem der winzigen Tische, vor sich einen Teller Baklava und ein Glas Tee.
Während er das honigtriefende Gebäck verzehrte, freute er sich daran, beflügelt von kindischem Stolz, dass er sich so problemlos und ohne Dolmetscher versorgt hatte. Trotzdem kam ihm die Reise immer verrückter vor. Was wollte er eigentlich bewirken? Wie zum Teufel war er in diese fremde Stadt gelangt? Vor über vier Monaten hatte die Geschichte angefangen, nach einem langweiligen Arbeitstag an einem grauen Novemberabend, als er, an seiner eigenen Bedeutungslosigkeit leidend und voll lächerlicher Abenteuerlust, diesen fatalen Herrn Kaya in seinem Grill in der Fußgängerzone von Hemmstedt kennengelernt hatte, einen pausbäckigen Türken, der einen schweren Ring an der Hand trug, mit drei eingravierten Vögeln! Schlüter schlürfte den Tee und beobachtete den dicken Verkäufer, wie er Kuchen verkaufte, sah an ihm vorbei auf die Straße, die sich allmählich mit Fußgängern füllte. Auf zerborstenen Bürgersteigen liefen sie, auf losen Platten, über achtlos hingeschmierte Zement- und Asphaltkanten, vorbei an grauen und bröckligen Hausfassaden, an denen hoch bis in die obersten Geschosse hässliche Schilder in allen Größen hingen, Transparente, die an die Häuser gespannt waren, Fahnen, die flatterten und grelle Reklame machten. Dort drüben am zweiten Stock, Schlüter dehnte sich, um besser zu sehen, ein rotes Stück Stoff. Mit drei Vögeln darauf! Daneben die Buchstaben MHP. Was bedeutete das? Nein, das waren natürlich keine Vögel. Sondern drei Halbmonde.
Schlüter sah die Hand des Hemmstedter Grillwirtes vor sich auf dem Tisch liegen, als er von den Morden des 2. Juli 1993 erzählte, die Hand mit den kurzen Wurstfingern, von denen einer den schweren Ring trug, und plötzlich hörte er die Worte des Mannes in seinem inneren Ohr: Da war er schon fortgegangen, schon am späten Nachmittag, zurück zu seiner Arbeit in einem Geschäft für gebrauchte Möbel … Er ist zur Arbeit gegangen in Yahya Bey, nicht weit von der Gökmedrese, wo es übrigens den besten türkischen Honig in der Stadt zu kaufen gibt, fragen Sie nach Achmed …
Schlüter vergaß seine Zweifel und holte den Stadtplan aus der Manteltasche, faltete ihn auseinander, prüfte systematisch jeden Namen auf dem Blatt. Da stand es: Gökmedrese M. Und etwas daneben: Yahya Bey M. Was bedeutete M?
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