Paragraf 301
1. Februar 1995, begann der Text.
»Is that the handwriting of your husband?«, hatte Schlüter aufgeregt gefragt, obwohl er die Antwort kannte.
Mutter und Tochter beugten sich über die Schrift. Sie hatten das Blatt übersehen, sahen es zum ersten Mal. Ja, es war Veli Adamans Handschrift. Es war sein Testament, sein Letzter Wille, denn zwei Tage später war er ermordet worden, er hatte es nicht mehr geschafft, den Brief auf den Weg zu bringen. Schlüter versprach, wenn er wieder zurück sei, werde er Adamans letzten Willen erfüllen. Wieder ein Versprechen. Er hatte den Text abgeschrieben, die Abschrift in das Buch gelegt, zur Sicherheit, und das Original in seine Manteltasche gesteckt.
Und dann hatte er Christa angerufen. In der Wohnung gab es ein Telefon, Frau Adaman stellte die Verbindung her. Christa.
»Ja? Oh …«
»Du musst gleich morgen Angela im Büro anrufen. Sie soll sofort Heinsohn anrufen und ihm sagen, er soll unbedingt Cengi in der Haftanstalt aufsuchen. Ich habe etwas gefunden, was für ihn sehr wichtig ist, sehr gut, ich kann nicht mehr sagen, ich …«
»Ich verstehe. Wie geht es euch?«
»Gut, ja gut, ich habe keine Zeit …«
Man musste einen kühlen Kopf behalten. Denn es ging nicht um die Toten, sondern um die Überlebenden und morgen würde für Heyder Cengi der entscheidende Tag sein. Morgen würden sie nach Ovacık fahren, dorthin, von wo es kein Entrinnen gab. Ezo hatte erklärt, sie werde mitfahren, in jedem Fall. Sie wusste von ihrem Vater, wo die Massaker stattgefunden hatten, denn er hatte ihr die Orte schon als kleines Kind gezeigt. Ihre Mutter hatte Ezo lange prüfend angesehen. Hin ja, hatte sie gesagt. »Aber zurück fährt sie nicht mit. Das ist zu gefährlich. Zurück ist es am gefährlichsten. Zurück wird sie nicht mit euch fahren.«
Schlüter trat einen Schritt vom Fenster weg. Der süßliche Gestank war noch nicht fort, er steckte fest im Bett und in der Matratze. Ziemlich ekelhaft. Aber was soll’s, dachte er. Es gibt Schlimmeres. Er sparte sich das Zähneputzen, denn im Badezimmer war es auch nicht besonders gemütlich. Es gab keine Duschwanne, sondern nur einen Schlauch an der Wand und einen Abfluss im Fliesenboden, aus dem es verdächtig roch.
Er zog die Schuhe aus, legte sich in Kleidern auf das Bett und warf sich eine der Wolldecken über. Er dachte an den morgigen Tag, er wartete auf den Schlaf, er versuchte, an Christa zu denken, aber die rötlichen Lichtflecken an der Wand machten ihm Angst, sie sahen aus wie die blutigen Buchstaben des sterbenden Emin Batu und sie zuckten wie der Leib des greisen Seyit Rıza am Galgen. Schlüter tastete nach seinem Mantel und war erst beruhigt, als er das Knistern des Papiers hörte, auf dem Adaman seinen letzten Brief geschrieben hatte.
45.
Schlimme Geschichten.
Nach flachem Schlaf stand Schlüter zeitig auf und weckte Clever. Der süßliche Geruch der Hotelzimmer klebte in ihren Kleidern und sie waren froh, sie lüften zu können, denn im Hotel gab es kein Frühstück, sie nahmen es auswärts ein, in einem pastahane, mit Blick über die Straße auf das Militärlager und seine patrouillierenden Soldaten, auf wartende Schuhputzer und die umherstromernden Männer, in deren Gesichtern keine Hoffnung war.
»Wie hast du geschlafen?«, fragte Schlüter.
»Ich könnte sie heiraten«, sagte Clever. »Hab ich mir überlegt heute Nacht.«
Schlüter sperrte den Mund auf, brachte aber keine Antwort zustande und steckte deshalb eine Olive hinein.
»Dann können die beiden ausreisen«, fuhr Clever fort. »Dann können sie weg hier. Die müssen doch weg.«
»Das kannst du doch nicht einfach so …«
»Wieso nicht?« Clever sah Schlüter an, mit einem Gesicht voller Entschlossenheit.
»Und wenn sie nicht will?«
»Muss sie wissen.«
»Spinnst du, sag mal?«
»Wieso soll ich spinnen? Gibt es einen besseren Grund zum Heiraten als den? ’ne Scheinheirat ist immer noch besser als ’ne Heirat bloß wegen der Steuern.«
Gab es einen besseren Grund?
»Hast du die Schüsse gehört?«, fragte Clever.
»Ja.«
»Heute Morgen um fünf. Über eine halbe Stunde lang.«
»Ich habe sie gehört.«
Sie verloren kein Wort mehr darüber.
Sie wollten das Haus von Besê Adaman kein zweites Mal aufsuchen und sich womöglich verdächtig machen, deshalb hatten sie sich mit Ezo vor der Schlachterei unten um die Ecke verabredet, nur ein paar Meter vom Hotel entfernt. Sie trug Jeans, Windjacke und Stiefel und schlüpfte flink hinten in den
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