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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Wagen. Nach wenigen Minuten lag die Stadt hinter ihnen, sie fuhren wieder auf einer schmalen Straße, deren Belag aus Resten von altem Asphalt, meistens aber aus Schotter bestand und die weiter hinauf in die Berge führte, in langen Windungen am Fluss Munzur entlang, der hinter Ovacık aus dem Fuß der Gebirge quoll, dort, wo es nur Schnee gab und noch nie Menschen gewohnt hatten. Einundsechzig Kilometer bis Ovacık.
    Der Munzur, erklärte Ezo Adaman, die Lebensader des Dersim, sei den Aleviten heilig, denn Gott erscheine den Menschen im Wunder der von ihm geschaffenen Natur, er schenke den Menschen Wasser zum Trinken und zum Bewässern ihrer Felder. Sie erzählte ihnen die Sage von Munzur Bava und seiner Flucht mit dem Topf mit Ziegenmilch, die er verschüttete. Vierzig Tropfen fielen zu Boden, aus denen vierzig Quellen entsprangen, die sich zum großen Fluss Munzur vereinigten. Der Staat plane einen großen Staudamm im Dersim; er solle Wasser liefern für die fruchtbaren Ebenen im Süden, behauptete man. Aber das sei nicht der wahre Grund für das Bauvorhaben. In Wahrheit wolle man die Heimat der Dersimi und ihre Kultur für immer ertränken.

    Die Straße führte steil am Berg entlang durch felsige Klüfte und Schluchten. Keine Bäume, nur hier und da winterstarres Gestrüpp an sonst kahlen Hängen.
    »Stop. Here it is«, sagte Ezo, als sie eine Viertelstunde unterwegs waren. Sie hielten an einer etwas breiteren Stelle und stiegen aus. Von der Höhe blickten sie hinunter auf eine mächtige Kehre des Flusses, über deren Außenseite der Fels sicher über hundert Meter senkrecht aufragte, darüber das schmale Band der Straße wie eine Kerbe in der Flanke des Berges.
    »Geyiksuyu«, sagte Ezo. »Dort ist der Fels der Zwanzigtausend.«
    Sie setzte sich auf einen Steinbrocken und streckte den Zeigefinger aus. Ob sie den großen Fels sähen, der, halb aus dem Wasser des Flusses ragend, vor der senkrechten Wand liege?
    Schlüter nickte, übersetzte leise. Clever nickte.
    Dort oben, erzählte Ezo Adaman, habe das größte Massaker jener Jahre stattgefunden, dort oben hätten die Soldaten auf Befehl des großen Demokraten und verehrten Staatsgründers Atatürk, dessen Konterfei in jeder Amtsstube und jedem Geschäft des Landes aushing, den man auch im Westen als modernen Politiker schätzte, dort oben auf dem Plateau hätten seine Soldaten auf seinen Befehl zwanzigtausend unschuldige Dersimi zusammengetrieben, Menschen aus den umliegenden Dörfern. Männer, Frauen, Kinder, Alte. Menschen, für die eine Kugel zu schade war. Einzeln waren sie zur Klippe gezwungen worden, an den Abgrund. Dort stachen die Soldaten mit Bajonetten auf sie ein. Sie ließen keinen aus. Schubsten sie vom Felsen, in den Abgrund. Unten zerschmetterten sie auf dem großen Stein. Ein schrecklicher stummer Haufen verrenkter Menschen, auf den immer neue fielen, der größer wurde, auseinanderrutschte, in den Fluss tropfte. Wer nicht schon tot, erstochen oder erschlagen war, ertrank im kalten Fluss. Es dauerte Tage, bis die Soldaten mit dem Schlachten fertig waren. Das heilige Wasser färbte sich rot bis hinunter zum Euphrat, die Leichen lagen an den Ufern, verfingen sich im Gebüsch, verkeilten sich in den Stromschnellen, trieben auf, es dauerte Wochen, bis Körper, Beine, Köpfe, Arme, Gedärm zerrissen, zerfasert, verwest, fort oder zum Grund gesunken waren.
    »Zwei Frauen haben überlebt. Die eine lebt immer noch, hier in der Stadt. Sie hat meinem Vater alles erzählt, aber nun will sie nicht mehr darüber sprechen. Sie will nicht, dass man ihren Namen sagt. Sie hat Angst. Der Stadtkommandant hat ihr ein Strafverfahren angedroht. Sie würde lügen, hat er gesagt. Beleidigung des Türkentums. Paragraf 301 des Strafgesetzbuches.«
    Ein schöner Paragraf. Er hielt die Wahrheit unter dem Teppich und den Türken ihre Völkermorde vom Gewissen, an den Armeniern, den Griechen, den Lasen, den Kurden und den Dersimi. Und er stopfte den letzten Zeugen den Mund.

    Schlüter übersetzte. Clever hörte zu, kommentarlos, bleich im Gesicht, aus dem jede Spur von Melancholie gewichen war. Er nickte noch nicht einmal. Sein Mund war schmal wie ein Strich.

    Sie hockten im kalten Wind unter der schon wärmenden Sonne an der Böschung der einsamen Straße und blickten stumm hinüber zum Richtplatz über der Biegung des Flusses, ein majestätischer Blick. Schließlich zog Schlüter sein Diktiergerät aus der Manteltasche und bat Ezo Adaman, den Bericht zu wiederholen.

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