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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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konnte, nur einen Betonklotz, der knapp zum Sitzen reichte. Tausend kurdische Intellektuelle wollte man hinrichten, das kurdische Volk köpfen, um die kurdische Sache, wie es hieß, für dreißig Jahre aufzuhalten. Batu und Anter gehörten zu den ersten fünfzig, denen man den Schauprozess machen wollte, damals, 1959 in Istanbul. Fünfzig weitere sollten folgen, und immer so weiter, bis die tausend voll waren. Aber daraus wurde Gott sei Dank nichts. Heute saß man in Gemeinschaftszellen, und das war das Einzige, was sich geändert hatte.
    »Haben Sie von Seyit Rıza gehört?«
    Schlüter schüttelte abermals den Kopf.
    »Er hat gekämpft damals. Für unsere Freiheit. Jeder hier in der Gegend kennt seine Geschichte. Ich möchte sie Ihnen erzählen …«
    Und Besê Adaman erzählte die Geschichte jenes Mannes, der selbst zum Galgen schritt, den Henker fortstieß und sich den Strick um den Hals legte, der starb, ohne gebetet zu haben, weil sein ganzes Leben ein Gebet gewesen sei. Betet nicht mit den Knien, sondern mit dem Herzen.
    »Fahren Sie nach Ovacık und fragen Sie nach Dede Fırık«, riet die Witwe. »Er hat mit Seyit Rıza gekämpft damals, er wird Ihnen mehr erzählen.«
    Und die PKK?
    Um Ovacık herum gab es nur noch wenig belebte Dörfer und die PKK hatte Probleme, Kämpfer zu rekrutieren, es kamen jetzt sogar welche aus Europa und aus dem Irak. Leute, die im Verdacht standen, die PKK zu unterstützen, wurden hingerichtet, so wie vor zwei Wochen der Bauer, Mansuroglu hieß er, dem man zuerst die Augen ausgestochen hatte, um ihn dann zu erschießen und mit zwei toten PKK-Kämpfern auf ein Panzerfahrzeug zu legen und durch die Stadt zu fahren und dabei die Fahne mit den drei Halbmonden zu hissen.
    »Wir werden hier krank vor Hass«, sagte die Witwe leise. »Manche werden vom Hass aufgefressen. Sie werden gierig darauf, jemanden zu töten. Sogar die Frauen. Eine hat sich auf der Militärparade vor drei Wochen in die Luft gesprengt. Fünf Soldaten sind mit ihr gestorben.«
    Vergiss nicht, dass auch dein Feind ein Mensch ist. Schätze keinen Menschen und kein Volk gering. Auch wenn man dich verletzt hat – verletze niemanden.
    »Manchmal ist es schwer, so zu handeln.«
    »One day I will go back to my village«, sagte Ezo plötzlich, die an der Tür lehnte. »And live there with my family.« Auch sie konnte Englisch, besser noch als ihre Mutter, die stolz bemerkte, die alevitischen Frauen seien bekannt für ihre Bildung. Da stand Ezo, in Jeans, entschlossen, mit leuchtenden braunen Augen. Hoffnung. Die Hoffnung der Vertriebenen. Wenn du deine Heimat nicht freiwillig verlässt, träumst du ewig von deiner Rückkehr. Und schlägst keine Wurzeln.
    Sie waren nach Tunceli gegangen, die Adamans, weil sie gehofft hatten, hier in der Stadt etwas sicherer zu sein als in dem kleinen Ovacık, wo die Spitzel sehen konnten, wohin du gehst, mit wem du redest, was du einkaufst. Und sie hatten sich diese Dreizimmerwohnung leisten können, solange Veli Geld geschickt hatte, und jetzt würde sie Geld von den Verwandten aus Basel bekommen, die meisten seien in die Schweiz geflohen, andere in die Gegend von Köln, nur Veli sei in Hamburg gelandet. Auch dort gäbe es viele Aleviten, die meisten allerdings seien Türken und denen müsste man erst erklären, wie es hier im Dersim zugehe, sie wüssten nichts oder wenig vom Völkermord.
    Und dann hatte Ezo das Buch geholt und vor Schlüter auf das Beistelltischchen gelegt, auf dem der Teller mit dem Börek, den er nicht gegessen hatte, und das Teeglas standen. Das Buch handelte von ihrer Sprache, so viel hatten die Adamans verstanden. Aber mehr nicht. Karl Hadank, Die Sprache der Zaza in Wort und Grammatik . Leipzig 1932. Schlüter hatte das Buch aufgeschlagen. Grammatik, Sätze. Er begann zu erklären. Die Muttersprache der Zaza – dass der deutsche Forscher ihnen die Schrift gegeben hatte. Für den Dialekt rund um Pülümür. Ein gefährliches Buch übrigens, ein separatistisches Buch, über eine Sprache, die es nicht geben durfte. Bergtürkisch nannten die Türken diese Sprache und sie behaupteten, es sei schlechtes Türkisch, ein minderwertiger Dialekt. Dabei war es eine indogermanische Sprache, die mit Polnisch, Deutsch und Französisch verwandt war und nicht mit Turkmenisch, Uigurisch und Tscherkessisch.
    Schlüter hatte das Buch durchgeblättert. Plötzlich das mit Bleistift beschriebene, gefaltete Papier zwischen den leeren Einbandblättern am Ende des Buches: Hollenfleth, den

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