Paragraf 301
Für Heyder Cengi. Und für ihren Vater. Sie wiederholte ihre Erzählung, sprach, ohne zu stocken, sah das Diktiergerät, sein langsam drehendes Tonband und das rote Aufnahmelämpchen, dabei fest an und am Ende fragte sie das Diktiergerät, ob es einen anderen Grund für das Staudammprojekt geben könne, als den Ort des Verbrechens für alle Zeit verschwinden zu lassen?
Wie hatte Osman in Sivas gesagt? Wir sind alle Brüder.
Was sie von der Politik der PKK hielte, wollte Schlüter von der jungen Frau wissen. Sie war erst sechzehn, aber im Krieg werden die Leute schneller erwachsen. Gott, antwortete sie, habe den Menschen geschaffen als Ebenbild seiner selbst und deshalb sei auch der Mensch heilig, weshalb es eine schwere Sünde sei, einen Menschen zu töten, auch wenn es sich um einen Feind handele. Andere haben die Kaaba, meine Kaaba ist der Mensch, hatte Hacı Bektas Veli gesagt .
Aber Notwehr?, dachte Schlüter. Ist das Notwehr, wenn ich einen Besatzer töte? Ob die Kämpfer in den Bergen wirklich Verbrecher seien, fragte er, Leute, die ihren Glauben verloren hätten?
Besê Adaman hatte behauptet, kein Kämpfer sei ein Alevit, die Türken hätten das Alevitentum zerstört, deshalb glaubten die Jungen nur noch an Kampf und Politik. Und die Soldaten seien nur wegen der PKK da und umgekehrt. Würde ein Teil abziehen, hätte der andere keinen Grund zu bleiben, würde auch irgendwann verschwinden, und dann könnten die Menschen endlich wieder in ihre Dörfer zurückkehren, vielleicht ihre Häuser reparieren oder neu bauen und ihre Felder bestellen. Andererseits – würde der Staat aufhören, Kurden und Zaza und Dersimi zu Türken zu machen? Würde man verzeihen können ohne Entschuldigung? Würden die Rassisten weniger rassistisch handeln, wenn die PKK abzöge? Würden sie die Sprache erlauben, Zeitungen, Radiosender, Schulen, in denen die Muttersprachen gelehrt wurde, Cemhäuser, in denen sie sich treffen, wie früher allen Streit schlichten, dann gemeinsam singen und zu den Klängen der Saz den Semah tanzen konnten?
»Wenn ich achtzehn bin, werde ich Christin«, sagte Ezo stolz und warf ihre Haare nach hinten.
Schlüter sah sie erstaunt an. »Christin?«
»Ich will nicht mehr, dass sie uns Aleviten Moslems nennen. Wir sind keine Moslems. Wir sind Aleviten. Und dann werde ich eine christliche Alevitin sein. Dann kann keiner mehr sagen, dass ich eine Muslima bin und in die Moschee gehen soll. Das hat meine Cousine auch schon gemacht. Sie ist nach Istanbul gefahren und hat sich registrieren lassen.«
Ezo stand auf und klopfte sich den Staub von der Jeans.
»Aus den Moscheen kommt keine Toleranz für uns«, sagte sie. »Und seit den Morden von Sivas wissen wir, dass wir über unsere Religion nicht mehr schweigen dürfen.«
Sie fuhren weiter. Keine Häuser. Kein Verkehr. Keine Menschen. Nackte braune, braunrote, graublaue Bergflanken, darüber die einsamen beschneiten Gipfel, unten das türkisgrün heraufleuchtende Band des Flusses, in dem frühmorgens die Bären badeten. »Braunbären, sie sind hier glücklich.« Und über allem der stahlblaue Himmel, der keine Wolken zu kennen schien.
Nach abermals zehn Minuten Fahrt hieß Ezo Schlüter erneut halten. Die Straße führte jetzt in einer tiefen Schlucht am Ufer des Flusses entlang, der hier keine zwanzig Meter breit war und mit gleichmäßigem Rauschen an ihnen vorbeischoss. Ezo kletterte auf die Steinbrocken am Ufer, bog die Äste beiseite und wies auf die andere Flussseite. Sie wartete, bis die beiden Männer neben ihr standen.
»Lac derisı. Die Schlucht der Vierzehntause nd.«
Eine Schlucht? Schlüter entdeckte hinter dem kahlen Gestrüpp der Uferbüsche eine Spalte im grauen Berg, eine schmale Öffnung zwischen schräg versetzten Felsen. Dort drüben, berichtete Ezo, beginne die Schlucht, sie führe bis fast nach Pülümür hinauf, an die fünfzig Kilometer weit. Darin hätten sich vierzehntausend Dersimer Aleviten vor dem Militär versteckt, damals 1938, viele, die nicht hatten weiter fort fliehen können, die meisten also Alte, Kinder und Frauen. In der Schlucht hätten sie alles gefunden, was der Mensch zum Überleben braucht: Aprikosen, Birnen, Äpfel, Nüsse, Pilze und Gulik, ein porreeähnliches Gewächs, »das ist wie Medizin«, denn hier im Dersim sei einmal das Paradies gewesen, man könne von der Natur leben, tief in der Schlucht gebe es weite Stellen, dort sei es geschützt und warm, kein Wind käme dorthin, in die Höhlen hätten sich die
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