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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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waren. Dann machten sie sich auf die Suche nach der Sanat Sokak, einer abschüssigen Straße, in der Besê Adaman in einem sechsstöckigen Haus wohnte. Tiefe Pfützen im aufgerissenen Belag.
    Veli Adamans Witwe lebte in einer Dreizimmerwohnung, seit man das Dorf nahe Ovacık, das ihre Heimat gewesen war, niedergebrannt hatte. Zwanzig Minuten Zeit zur Räumung. Das war 1984 gewesen. Manche der Vertriebenen waren zurückgekehrt, sie bauten sich Sommerzelte auf, um ihre Felder zu bestellen, aber seit das Kriegsrecht galt, war es verboten, Äcker und Weiden außerhalb der Orte zu betreten. Seit 1994 war ein Lebensmittelembargo verhängt. Die erlaubten Mengen waren so knapp bemessen, dass man für den langen Winter, wenn die Wege nicht passierbar waren, keine Vorräte anlegen konnte. Aber auch im Sommer konnte man nicht jeden Tag zwanzig Kilometer zu Fuß gehen, um einzukaufen. Wovon leben? Das Lebensmittelembargo hatte den endgültigen Tod der Dörfer bedeutet. Vor 1937 hatten zweihunderttausend Menschen im Dersim gelebt. Und jetzt war nur noch ein Viertel übrig geblieben. Die anderen waren in der Fremde, auf der Flucht. Oder tot.
    Auch Veli Adaman war fortgegangen, um sein Leben zu retten und um Geld zu verdienen, und das, so erklärte Besê Adaman in gebrochenem Englisch, war genau das Ziel der Nationalisten: Vertreibung, Entwurzelung, Verbot der Sprache, Verbot der religiösen Zeremonie. Kein Cem in den Häusern. Das Kriegsrecht verbot Versammlungen. Aus Kurden, Zaza und Dersimi sollten brave Türken gemacht werden. Die Armenier hatte man umgebracht, danach die Griechen und die Lasen. Überschaubare Völkchen. Zwanzig Millionen Kurden und sechs Millionen Zaza aber konnte man nicht umbringen. Man musste sie zwangsweise assimilieren. Sie würden sich in der Fremde mit den Türken vermischen und ihre Herkunft und Kultur vergessen. Wer von selbst ging, den musste man nicht mehr deportieren. Das, so erklärte Besê Adaman, sei türkische Politik seit Atatürk. Bei uns nennen sie das inländische Fluchtalternative, erinnerte Schlüter sich an seine Lektüre in der Bibliothek des Gerichts.

    Ezo, die sechzehnjährige Tochter, reichte Börek, Schlüter war längst satt, denn sie hatten ja gerade gegessen, aber Clever griff ordentlich zu, sein langer Leib fasste leicht doppelte Speise. Er war wieder schüchtern geworden, seit er es nicht mehr mit Krieg und Soldaten zu tun hatte und kein Türkisch geredet wurde und lauter Frauen im Zimmer waren. Nach dem Tod des Ministerpräsidenten Turgut Özal, erzählte Besê Adaman weiter, habe man mit der Vernichtung der Dörfer von Neuem losgelegt. Auch mit Özals Tod im April 1993 sei es nicht mit rechten Dingen zugegangen. Sicher habe man ihn vergiftet. Ein Kurde war er, ja. Auch wenn er das selbst nicht zugegeben hatte, nur, dass seine Großmutter Kurdin gewesen sei. Aber das war schon zu viel. Man könne als Kurde alles erreichen in diesem Land, man dürfe nur nicht sagen, dass man Kurde sei, und kein einziges Wort Kurdisch dürfe man sprechen. Ja, schon die Behauptung, es gebe ein kurdisches Volk und eine kurdische Sprache, sei verboten. Oder gar Zaza, zu denen die Dersimi gehörten. Ein Kurde als Präsident, der keine Dörfer mehr verbrennt und schließlich mit der PKK über eine Waffenruhe verhandelt, ist verdächtig und wird umgebracht. So ging es zu in diesem Land: Eine kurdische Parlamentsabgeordnete, unten aus Diyarbakır, war wegen Landesverrats zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt worden, weil sie bei ihrer Vereidigung im Parlament einige Sätze Kurdisch gesprochen hatte. Nach ein paar Sätzen schon war sie vom Pult gezerrt und in den Kerker geworfen worden. Das Militär, die Gendarmerie, sie sitzen überall auf unserem Leben, sie hocken unter jedem Stein, und sogar wenn der Esel den Schwanz hebt, dann glotzen sie dich an.
    So viele dunkle Jahre.
    »Kennen Sie Musa Anter?«, fragte Besê Adaman.
    Nein, Schlüter hatte diesen Namen nie gehört.
    Ein Kurde aus Mardin, ein Journalist, der damals oft im Dersim gewesen sei. Natürlich habe man ihn verhaftet, weil er für die Sache seines Volkes eingetreten sei.
    Ich ziehe es vor, ein Dorn im Garten der Freiheit als eine Rose im Garten der Sklaverei zu sein, hatte der sterbende Emin Batu, Mitgefangener des Kurden Musa Anter aus Mardin, an seine Zellenwand geschrieben, mit dem tuberkulösen Blut, das ihm aus dem Mund lief. Die Kloake des Gefängnisses ließ man durch seine Zelle laufen und er hatte kein Bett, auf das er sich legen

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