Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
Vom Netzwerk:
Flüchtlinge zurückgezogen, und auch Feuerholz gebe es dort in Massen. Ein perfektes Versteck. So lange, bis eines verhängnisvollen Tages zwei Kinder zum Fluss schlichen. Zwei durstige Alevitenkinder, die dort drüben aus der Felsspalte hervorgekrochen waren, durch die Büsche an das Ufer, um Wasser zu schöpfen, sie tauchten ihre kleinen Hände in das Wasser und löschten ihren Durst. Zwei Soldaten aber, die genau hier standen, sahen sie. Hätten sie sich doch abgewandt! Hätten sie doch geschwiegen! Wären sie doch ohne ein Wort fortgegangen! Aber die beiden waren gehorsame Soldaten, denn der Soldat denkt nicht, er fühlt nicht, er schont keine Kinder. Er gehorcht und er mordet. Zwei Feinde seien aufgetaucht, am Wasser, aus der Schlucht. Die Nachricht geht von Schreibtisch zu Schreibtisch, von Telefon zu Telefon, von Mund zu Ohr. Bis Ankara.

    »Sabiha Gökçen, die Adoptivtochter Atatürks, sie war die erste Frau in der Türkei, die ein Militärflugzeug fliegen konnte. Sie hat die Menschen in dieser Schlucht bombardiert. Das war ihr Werk, nicht nur etwas, an dem sie teilgenommen hat.«
    Woher sie das wüsste?, fragte Schlüter.
    »Die Adoptivtochter hat es selbst zugegeben. In einer Fernsehsendung am 15. Februar 1990. Sie hat gesagt: Als ich an einem Ereignis teilnahm … «
    Eine Kurdin sei sie gewesen, diese Adoptivtochter. Viele Türkenfamilien hätten Kurdenkinder aufgezogen, um sie zu türkisieren. Um sie zu Schlangen zu machen.
    Alle seien umgekommen in der Schlucht, verbrannt, erstickt, erschlagen, von Bomben getroffen. Die Knochen der Toten lägen unbestattet zwischen den Felsen. Niemand hat überlebt. Und doch ist die Wahrheit nicht gestorben.
    »Mein Vater ist hinübergeschwommen«, erzählte Ezo weiter. Genau hier durch den reißenden Fluss. Er fand die Knochen, gebleicht lagen sie in der Sonne seit bald sechzig Jahren, er saß bei ihnen, beweinte die Toten, und als er aufstehen wollte, fühlte er einen Stein in seiner Hand, den hat er mitgenommen, zur Erinnerung an »unsere Leute, an unsere Großväter und Großmütter, an unsere Onkel und Tanten, mit denen unsere Eltern hätten Tee trinken können, wären sie nicht umgebracht worden, an die Kinder und Kindeskinder, die nicht geboren wurden, weil die Menschen, die vielleicht ihre Eltern und Großeltern hätten werden können, so früh schon sterben mussten …«

    »Dieser Stein?« Schlüter hielt sich mit einer Hand am Gestrüpp fest und zog mit der anderen den Völkermordstein aus seiner Tasche heraus.
    Ezo Adaman sah den Stein mit großen Augen an.
    »Das ist er«, sagte sie. »Das ist er. Woher …?«
    »Er lag auf dem Tisch, als er fort ist, Ihr Vater, und ich habe ihn an mich genommen. Und immer bei mir getragen seitdem, die ganze Zeit.«
    »Wie mein Vater.«
    Nur deshalb war er, Schlüter, jetzt hier. Der schweigsame Stein hatte ihn hergeführt an die Orte des Grauens. Er hätte ihn jetzt hinüberwerfen, den Kreis schließen können. Aber der Stein hatte noch einen Weg vor sich, noch vierzig Kilometer bis Ovacık, das man nicht mehr Pulur nennen durfte.
    Ezo Adaman verlangte das Diktiergerät von Schlüter, ließ sich von ihm die Aufnahmefunktion erklären und sprach die ganze Geschichte hinein, alles, was ihr Vater ihr gesagt hatte, was sie von ihren Nachbarn und Verwandten wusste, langsam, mit fester Stimme, und irgendwann wechselte sie in ihre eigene Sprache, bis das Gerät piepte, und dann drehte Schlüter das Band um und sie sprach weiter, bis das Band voll war.

    Bleich und mit trockenen Augen blieb sie stehen, und sie hörten nur noch das Rauschen des Flusses.
    »So eine verfluchte Scheiße«, sagte Clever, als sie wieder in den Wagen einstiegen. »Dagegen kann ich das bisschen Mist, das ich erlebt habe, glatt vergessen.«

46.
    Die letzte Straßensperre befand sich unmittelbar vor der Abzweigung nach Hozat, das eigentlich Xozat hieß, wie Ezo klarstellte, aber das X sei eben ein verbotener Buchstabe, weshalb »die Türken« den Ort umbenannt hätten. Ob man sich etwas Lächerlicheres vorstellen könne als eine Regierung, die sich damit beschäftigt, Buchstaben zu verbieten? Wie viel Angst müsse eine solche Regierung haben, wenn sie solche Lächerlichkeiten ernst nahm?
    Immer das Gleiche, dachte Schlüter. Als Erstes verbietet der Eroberer Sprache und Kultur der Unterworfenen. Aber er hat Angst vor ihnen und fürchtet Rache. Er weiß, dass er ungerecht gehandelt hat. Die Unterworfenen kämpfen und der Sieger reagiert mit Härte und

Weitere Kostenlose Bücher