Paragraf 301
dünner Rauch entwich dem Rohr im Dach und es roch falsch nach Frieden. Eine zähe Sorte Mensch. Von den meisten Brücken über den Fluss ragten nur noch die Stümpfe aus dem blattlosen Gestrüpp, das auf den Frühling wartete und sich danach sehnte, vielleicht wieder zu Bäumen zu wachsen …
Nach mehr als sechzig Kilometern südlich von Pülümür, an einer Brücke, die noch intakt war, an der Abzweigung nach Nazımiye, die nächste Kontrolle. Das Gepäck wurde nicht kontrolliert, offenbar vertrauten die Soldaten auf ihre Kameraden im Norden. Aber auch hier fünf Krieger, die den Wagen und seine Insassen mit schussbereitem Gewehr gefangen hielten, auch hier mussten sie demütig aussteigen, in das Schilderhaus folgen, ihre Ausweise vorlegen und das unsinnige Formular ausfüllen. Schlüter hätte den Anführer, auch er ein magerer Kerl mit kleinem rundem Gesicht, gern gefragt, warum sie ihre Angaben wiederholen mussten, denn wer an diesem Ort in die Kontrolle kam, konnte nicht anders als vom Fluss Karasu her gekommen sein, von der Straße mit der Nummer 100. Aber Schlüter blieb stumm. Der Bürokratie ist es egal, ob Krieg oder Frieden herrscht, sie gedeiht unter beiden, und im Krieg beantwortet sie keine Fragen. Also schrieb Schlüter ein zweites Mal den Namen seines toten Vaters und seiner fast neunzigjährigen Mutter auf, die im Altenheim in Husum nichts ahnte von ihrer späten asiatischen Wichtigkeit. Clever trug sein Wolfgang Schäuble Clever in das Formular ein und Schlüter fand nicht mehr viel dabei, ihm unbewegten Gesichtes zuzusehen. Man gewöhnte sich schnell, schon glaubte man, die Situation unter Kontrolle zu haben, nur weil man sie schon einmal erlebt hatte. Die Gewehre jagten ihm weniger Angst ein, er hatte die Hände wie von selbst auf dem Lenkrad liegen lassen, sogar seinen Gang empfand er ungezwungener als beim ersten Mal, und es fiel ihm nicht schwer, beim Fortfahren nur nach vorn zu sehen. Sie hatten ihn schon ein wenig erzogen, die Soldaten, er gehorchte auch ohne neuen Befehl.
»Blöde Säcke«, knirschte er, als er die Bewaffneten im Rückspiegel nicht mehr sehen konnte. Dann fragte er: »Und wenn sie schießen?«
»Dann schießen sie«, erwiderte Clever lakonisch.
»Und was machen wir dann?«
»Gas geben, wenn das noch funktioniert, was sonst?«
Immerhin, das war eine Option. Clever hatte sich alles überlegt. Als würde es keine Überraschungen geben für ihn, den Exselbstmörder.
Spät am Nachmittag erreichten sie Tunceli, die Eiserne Faust, die Stadt, die ihre Einwohner nicht mehr Dersim nennen durften, das Silberne Tor. Sie lag auf Hügeln, umgeben von den schneebedeckten Zinnen des Munzurgebirges, das Stadtzentrum war kleiner als das von Hemmstedt, man konnte es zu Fuß in fünf Minuten durchqueren. Sie stellten ihren Wagen ab und stiegen aus, verfolgt von den Blicken der Schuhputzer, die hinter ihren vergoldeten Werkzeugkästen saßen und geduldig auf Kundschaft warteten. Hinter ihnen, jenseits der wintergrauen Grünanlage: Militärlaster, Absperrgitter, patroullierende Soldaten, Kettenfahrzeuge, Fahnen mit Halbmond, ein großes Verwaltungsgebäude.
Auf den Straßen waren die Menschen unterwegs, ziel- und tatenlos strömten sie durch die Gassen, standen in Gruppen, bevölkerten die Teehäuser, sie schienen höher gewachsen zu sein als die Leute in Malatya und Sivas und waren von dunkler, fast bronzener Hautfarbe. Ernste Gesichter, prüfende Blicke. Selbstbewusste Frauenblicke. Die Stadt war voller Flüchtlinge, erfuhren sie später von Besê Adaman, die meisten dunkel gekleidet wie in Trauer. Sie fanden ein heruntergekommenes Hotel, das den Namen Otel Yüksel trug, ein schmales vierstöckiges Gebäude in einer Gasse, die nicht viel breiter als ein Auto war. Im Foyer auf zerschlissenem rotem Teppich eine lange Reihe zerschlissener roter Sessel. Das Paar, das dort saß und sich unterhalten hatte, verstummte, sah den Fremden neugierig nach, bis sie von einem ebenso stummen Portier nach oben geführt wurden. Die Deutschen waren die einzigen Gäste.
Aber touristischen Zeitvertreib konnten sie sich nicht leisten. Sie verließen das Hotel wenig später zum Essen, saßen im ersten Stock eines Restaurants und sahen zu, wie unter ihnen auf glühender Kohle Fleisch an Spießen gegart wurde, aßen Pide, tranken süßen Tee aus winzigen Gläsern, alles wurde auch hier in Höchstgeschwindigkeit bereitet und serviert, als seien sie Nomaden, die für einen schnellen Bissen vom Pferd gesprungen
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