Paragraf 301
ihrer allgemeinen Dummheit verharmlost hatte, in neuem, nämlich verdächtigem Licht erscheinen, und am Ende hatte Gustav Söhl gestanden, dass sein Bruder Werner den Nachbarn mit einem Holzknüppel erschlagen hatte, mit einem Stück Eichenholz, das sie nachher in ihrem Ofen verbrannt hatten. Beide Brüder wurden wegen Mordes verhaftet und zogen in die Hemmstedter U-Haftanstalt ein, um gemeinsam mit Heyder Cengi am Hofgang teilzunehmen.
Staschinsky hatte den Fall aufgeklärt, die Sache Adaman war für Cengi somit erledigt, wenn auch nur strafrechtlich.
Schlüter konnte sich danach voll der Sache Helmcke widmen. Zum Glück hatten die Hemmstedter Polizisten den Tatort gründlich fotografiert. Auf einem der Bilder war die herabhängende Gerüststange gut zu erkennen. Eine Kniestange, also eine Stange in Kniehöhe. Eine von Schlüter angeregte Befragung der an dem Bau beteiligten Arbeiter hatte ergeben, dass die Stange an dem Tag vor Helmckes Tod ordnungsgemäß in waagerechtem Zustand gewesen war. Eine Gerüststange konnte man aber nicht ohne Weiteres lösen, man musste sie losschrauben. Ein längerer Vorgang. Dass Cengi dies nicht während eines Ringkampfes mit Helmcke auf dem Gerüst bewerkstelligt haben konnte, leuchtete ein. Und dass er dies nicht in Erwartung einer Kontrolle und eines möglichen Ringkampfes just an dieser Stelle zuvor schon erledigt haben konnte, erst recht. Schließlich stellte sich heraus, dass die Gerüststange auf der einen Seite normal verschraubt gewesen war, auf der anderen Seite aber, weil eine schräge Stange störte, an dieser mit einer Kupplung festgeklemmt worden war. Auch eine solche Kupplung musste man festschrauben. Doch war sie nicht festgeschraubt, war das nicht sichtbar. Eine Prüfung und Abnahme des Gerüstes nach seiner Aufstellung konnte nicht bewiesen werden. Der Bauleiter der Gerüstbauer hatte zwar das ›Gerüstticket‹ unterschrieben, aber nur, wie er zugab, eine Sichtprüfung vorgenommen. Auf die Frage, ob es Sinn habe, das Ticket zu unterschreiben, ohne die einzelnen Verbindungen geprüft zu haben, hatte er geantwortet: »So gesehen nicht, aber die Unterschrift ist vorgeschrieben.« Wie das in einem bürokratischen Gemeinwesen üblich ist: Die Theorie musste stimmen, die Realität interessierte nicht. Schlüter hatte die Berufsgenossenschaft befragt und die erklärte, es müssten in jedem Fall Stichproben genommen werden, bevor der Unbedenklichkeitszettel ausgestellt werden dürfe. Ergebnis: Es war nicht auszuschließen, dass die Stange, weil nicht ordentlich festgeschraubt, unter dem Druck der Kämpfenden aus der Kupplung geflogen war. Und damit war die Anklage gegen Cengi im Eimer, noch bevor sie geschrieben worden war. Der Haftbefehl wurde aufgehoben. Cengi wurde entlassen und konnte sich in aller Ruhe das Gesicht reparieren lassen. Den Gefängnisarzt war er los.
Aber Cengi wäre eigentlich immer noch kein freier Mann gewesen, denn er befand sich in Deutschland und verfügte nicht über ein Aufenthaltsrecht oder wenigstens eine Duldung. Es gab eine alte Abschiebeverfügung gegen ihn. Der Haftbefehl wegen Totschlags hatte ihn sogar in gewisser Weise vor der Abschiebung geschützt.
»Der neue Oberkreisdirektor ist auch verrückt«, erklärte Schlüter.
»Warum das denn schon wieder? Der alte war verrückt, denke ich«, wandte Havelack ein.
»Weil er dem Cengi auf meinen Bericht und meine blauen Augen …«
Drei Tage nach dem Dienstantritt des neuen Oberkreisdirektors hatte Schlüter den verlangten Termin bei Ehlert Everding bekommen, ein Mann mit einem glatten, vielleicht etwas zu roten, möglicherweise etwas aufgedunsenen Gesicht, wie bei Leuten mit zu hohem Blutdruck und einem Alkoholproblem. Schlüter hatte sich kurz vorgestellt, dem Mann in die Augen gesehen, dabei kein Falsch erkannt und alles auf eine Karte gesetzt. Er hatte keine taktischen Manöver fahren können. Dazu reichte seine Kraft nicht mehr. Er riss alle Mauern der Vorsicht ein. Eigentlich, so gestand Schlüter dem Mann, habe er geplant, dessen Amtsvorgänger an diesem Ort zu erpressen, um eine Aufenthaltsgenehmigung für Heyder Cengi durchzudrücken, einen Häftling in der JVA, der demnächst wegen wahrscheinlicher Unschuld entlassen werde. Ja, er, Schlüter, Rechtsanwalt und Notar seines Zeichens, habe den Herrn Vorgänger erpressen wollen, denn dieser habe sich strafbar gemacht. Aber das tue nun nichts mehr zur Sache, denn nun sei der alte OKD fort, Gott sei Dank, doch könne er das
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