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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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hat, der Bruder Gustav Söhl. Er muss krank sein. Mitten im Apfelhof. Er muss ihr aufgelauert haben. Er hat sie gewürgt. Ich bin hingelaufen, habe ihn am Kragen gepackt und ihn fortgerissen. Und dann habe ich ihm ins Gesicht geschlagen, so stark ich konnte. Er ist gleich weggelaufen. Dann habe ich ihr geholfen und sie zu mir reingeholt.

    Sie wollte unter keinen Umständen zur Polizei. Sie wollte nicht, dass ihre Eltern von der Sache erfahren. Was sollte ich tun? Ich selbst konnte nicht zur Polizei gehen. Sie hätten mich verhaftet. Ich war sogar froh, dass sie keine Polizei wollte. Ich habe sie nach ihrem Namen gefragt. Sie heißt Carola Stieglitz, sie wohnt in Hannover-Langenhagen. Ich habe gewartet, bis sie fort war. Dann bin ich nach drüben gegangen und habe Gustav und Werner gesagt, dass ich zur Polizei gehe, wenn Gustav so etwas noch einmal macht. Dass mir alles egal wäre dann. Wir Aleviten dulden kein Unrecht. Wir haben immer unter Unrecht gelitten.

    Und heute ist es wieder passiert. Er hat ein Mädchen vom Fahrrad und in den Straßengraben gezerrt. Sie hat laut geschrien und ich bin wieder hingelaufen. Als er mich sah, hat er sie losgelassen, und sie ist aufgesprungen, hat ihr Fahrrad genommen und ist weggefahren. Ich weiß nicht, wer sie ist, aber es muss ein Schulmädchen sein, das hier im Moor wohnt.

    Und dann …

     
    Schlüter schwieg.
    »Das hört so auf, mitten im Satz?«, fragte Staschinsky.
    »Ja. Er hat es nicht geschafft, fertig zu schreiben.«
    »Was sagen Sie, wie heißt die Frau?«
    Schlüter wiederholte den Namen.
    »Und wo haben Sie das her?«
    Schlüter erklärte es noch einmal.
    »Der Brief war in einem Buch?«
    »Ja. Das Buch konnte ich nicht auch mitnehmen. Was meinen Sie, wie gefährlich das in der Türkei ist, wenn man die falschen Bücher im Auto hat.«
    Stille am anderen Ende. Staschinsky war offenbar beeindruckt.
    »Ich werde das checken lassen und melde mich dann wieder bei Ihnen«, sagte er. »Schicken Sie mir eine Kopie.«
    Schlüter ließ den Hörer sinken und atmete tief durch. Dann sah er auf die Uhr.
    Er drückte auf Angelas Taste. »Verbinden Sie mich noch mal mit der Sekretärin des OKD.«
    Und als er die Frau am Draht hatte, fragte er: »Wie heißt der neue Oberkreisdirektor?«
    »Das ist Herr Everding. Er tritt Montag seinen Dienst an.«

    »Ich brauche einen Termin bei Herrn Everding. Es geht um Leben und Tod. Das ist kein Witz, sondern bitterer Ernst. Ich brauche fünfzehn Minuten, um ihm das zu erklären. Richten Sie ihm das bitte aus. Ich komme jederzeit und unbedingt nicht später als in der nächsten Woche …«

    Schlüter fühlte, wie sich ein Stein auf seinen Magen legte, ein Völkermordstein, der schwerer war als der, der vor ihm auf der abgewetzten Tischplatte lag. Bald war es zwei Uhr mittags. Christa würde noch nicht zu Hause sein. Er würde es gerade noch schaffen in die JVA. Fragte sich nur, ob er eine Besuchserlaubnis bekam. Denn Verteidiger war er ja nicht mehr.

Teil 4
Landpartie

 
    Sei fleißig, verdienstvoll und freigiebig.
Gewinne die Seele der Menschen!
Ein Besuch, der einem Menschen Freude macht,
ist tausendmal verdienstvoller als eine Pilgerfahrt nach Mekka.

    Yunus Emre (1241–1321),
türkisch-alevitischer Dichter

55.

    Die wievielte Einladung war das eigentlich, der sie folgten in diesem Sommer auf den Hof Heinsohn in Engelsmoor? Die vierte? Die fünfte? Sie hatten sie alle angenommen, besonders gern aber diese, denn nicht Heinsohn persönlich hatte gebeten, sondern sein Oberknecht Heyder Cengi, der am Telefon, wie Christa berichtete, geheimnisvoll von einer Überraschung sprach. Was immer das bedeutete, wahrscheinlich eine kulinarische Überraschung, denn natürlich war auch Clever stets mit von der Partie, als Chefkoch, der sich von Heyder sekundieren ließ. Schlüter war neugierig, außerdem wollte er es niemals wieder so weit kommen lassen, dass er aus purer Abenteuerlust zum Nordpol wollte, um dann in eine Schießerei in den Bergen Anatoliens zu geraten. Er hatte für den Rest seines Lebens genug erlebt in dieser einen letzten Märzwoche. Er war voll davon und er würde sich niemals leer erzählen können, weil er außer Heyder Cengi, den es anging, nur Christa, seiner treuen Angestellten Angela und seinem einzigen Freund Arthur Havelack davon erzählt hatte. Niemand anders würde ein Wort erfahren. Hüte deine Zunge.
    Eine Einladung zu Bauer Heinsohn im Engelsmoor befriedigte Schlüters Bedürfnis nach Abenteuer jetzt voll und

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