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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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ganz. Auch wenn ihm hierdurch ein Leseabend verloren ging. Seit der Schießerei in der Schlucht des Munzur war Schlüter der Lesefanatismus abhandengekommen. Er hatte genug von Geschichten, die womöglich ausgedacht waren. Neuerdings saß er nach der Arbeit am offenen Fenster des Wohnzimmers, genoss die lange Dämmerung und ließ den Lufthauch des Sommerabends hereinströmen, in dem garantiert ein paar Moleküle vom Dunst des Dönerfleisches enthalten waren, das sich, nur gut hundert Meter von der Wohnung im Gerbergang entfernt, im Sivas-Grill am Spieß drehte, in dem immer noch Kemal Kaya Hausherr war, assistiert von seinem sogenannten Neffen Emin Gül. Wenn Schlüter ehrlich war: In der Stadt fühlte er sich nicht mehr wohl.
    Wenn er so am Fenster saß an den hellen Sommerabenden, hörte er wieder und wieder den letzten heiseren Schrei und den letzten trockenen Schuss. Wieder und wieder lief der Film in seinem Kopf ab. Die Kontrolle. Die plötzlichen Schüsse. Clevers Gebrüll. Die im Schotter durchdrehenden Reifen des Fiat. Wer hatte sie verfolgt? War es der Soldat hinter dem Schreibtisch gewesen, der den heiseren Todesschrei ausgestoßen hatte? Oder einer von den beiden, die sie in dem Schilderhaus bewacht hatten? Schlüter versuchte, sich ihre Gesichter in Erinnerung zu rufen. Kleine steife Jungengesichter, scheinbar nicht zu Regungen fähig. Man hatte ihnen beigebracht, wahrscheinlich mit Prügel und Schikane, zackig zu sein, keine Miene zu verziehen. Sie sollten Angst verbreiten. Respekt. Da durfte man keine Gefühle zeigen. Da durfte man nicht lächeln. Das taten sie wohl nur, wenn sie mit ihrer Familie zusammen waren. Sicher hatten sie Familie, eine Freundin oder ein Mädchen, der sie versprochen waren, vielleicht waren sie schon verheiratet und hatten sogar Kinder. Kinder ohne Väter. Mütter, Väter, ohne Söhne.
    Four soldiers.
    Irgendwann hatte er Christa von dem Telefonat mit Osman erzählt. Wenn man sich in den Krieg begab, kam man nicht ohne Schuld wieder heraus, sagte Schlüter. Sie hatten überlegt, ob vielleicht in der Zeitung geschrieben stand, wo der vierte Mann gestorben war, ob Schlüter Osman deshalb anrufen sollte. Aber er hatte es nicht getan. Christa glaubte, es werde nichts bringen, sie behauptete, Schlüter habe keine Schuld, und auch Clever nicht, falls … Sie sagte, das Ganze sei Schicksal gewesen.
    Den Völkermordstein hatte Schlüter hinter die Bücher im Wohnzimmer gelegt. Immer, wenn er daran vorbeiging, sprach der Stein. Er hatte seine Stummheit verloren. Er redete die ganze Zeit, wisperte Tag und Nacht.
    Auch das war ein Grund, warum sie die Einladungen des Bauern Heinsohn alle angenommen hatten: Man kam ein paar Stunden aus der Grübelei heraus.
    Der Wagen schaukelte auf der Moorstraße, die auf tausendjährigem Torfbrei schwamm, sie fuhren gerade dort, wo die Birken über ihnen ihre Hände falteten, der zweite Schnitt war eingebracht, das frische Grün der Weiden und Wiesen leuchtete in allen Facetten des späten Tages. Es roch nach Gülle.
    Schlüter kurbelte die Scheibe hoch. Eine starke Gegend hier, dachte er, dieser Geruch von Fäulnis, Gärung und Wiederauferstehung stärkt Leib und Seele des matten Städters.
    Eine kurzfristige Einladung war das gewesen, an dem Freitagabend hatte Schlüter sich schon mit seinem alten Freund Arthur Havelack verabredet, sie wollten die Rätsel der Welt bei einer anständigen Flasche Rotwein lösen, und weil Schlüter das eine nicht absagen wollte, um nur das andere zu tun, hatte er Heyder Cengi am Telefon kurzerhand gefragt, ob er Havelack mitbringen dürfe, denn der sei sowieso der wahre Retter Cengis und der Urheber aller glücklichen Fügungen, weil Havelack Clever aus dem Krankenhaus in Schlüters Bücherburg hatte türmen lassen, anstatt ihn in die Lüneburger Psychiatriefestung einzuweisen, und ohne dies wäre Clever nie mit in die Türkei gefahren und Schlüter entweder ebenfalls nicht oder ohne Ergebnis – oder tot – zurückgekehrt. Also war Havelack mit von der Landpartie, saß auf dem Beifahrersitz und machte einen ausgeglichenen Eindruck, und das war viel.
    »Wo ist das eigentlich, wo wir hinfahren?«, fragte er.
    »Engelsmoor«, erwiderte Schlüter.
    »Wo die Dame wohnt – wie heißt sie noch gleich …«
    »Agathe Kalde.«
    »Richtig, gibt’s die eigentlich noch?«
    »Und wie«, nickte Schlüter. »Der habe ich den ganzen Schlamassel doch zu verdanken, die hat den Adaman doch zu mir geschickt.« Eigentlich hätte Cengi die

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