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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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sie haben gesagt, du bist schuld?«
    Heinsohn nickte. »Karina«, schniefte er, »Karina hat gesagt, ich sei ein Mörder. Und Klaus, mein Schwiegersohn, hat gesagt, er will mich nie wiedersehen. Kann ich auch alles verstehen, weil … aber …«
    Clever stand jetzt auch hinter Heinsohn und legte eine seiner langen schmalen Hände neben Cengis auf Heinsohns Schulter. »Da kannst du doch nichts dafür! Das war ein grässliches Unglück! Deine Tochter – warum hat sie nicht besser auf den Jungen aufgepasst?!«
    »Das konnte ich doch nicht sagen!!«, rief Heinsohn und warf beide Arme empor. »Und außerdem – der Junge hatte Angst vor mir, wenn ich ihn nicht so scharf angedonnert hätte, hätte er sich nicht versteckt, wenn ich das damals nicht gesagt hätte, dass er was an die Ohren kriegt, wenn er auf dem Hofplatz ist, dann würde er heute noch leben!«
    »Und deswegen hast du mir geholfen, weil du wusstest, dass ich den Mann nicht absichtlich vom Gerüst geworfen habe?«, fragte Cengi leise, den Mund an Heinsohns linkem Ohr.
    »Ja«, nickte Heinsohn. »Ja. Ja.«
    »Du hast mir das Leben gerettet!«, rief Cengi. »Dein kleiner Lars hat mich gerettet, weißt du das? Der ist für mich gestorben …«
    Heinsohn drehte sich schwerfällig zu Cengi um. »Da hab ich noch nicht über nachgedacht«, sagte er.
    »Das Strafverfahren – ist eingestellt worden?«, fragte Schlüter.
    Heinsohn nickte. »Vor dem Gesetz habe ich keine Schuld. Aber was nützt mir das, der kleine Lars ist tot und die ganze Familie ist auseinander, sogar Klaus und Karina, und jetzt …«

    Keiner sagte mehr etwas. Ein Kauz streifte lautlos über sie weg, auf der Jagd.
    »Ich wollte die ganze Zeit nicht drüber nachdenken, obwohl …« Heinsohn nahm sein Schnapsglas, trank es leer und stellte es mit einer entschlossenen Bewegung wieder auf den Tisch.
    »Lasst uns reingehen«, schlug Clever vor. »Erstens müssen wir dann nicht so mit dem Essen hin und her und außerdem sehen wir hier bald nichts mehr.«
    In der Tat. Die Dämmerung dehnte sich aus. Die Fledermäuse zickzackten über ihnen. Sie standen auf, räumten die Sachen vom Tisch und brachten alles in die Küche, wo Cengi schon die Tafel für den Hauptgang aufgebaut hatte. Es würde Hähnchen mit Okraschoten geben, verkündete er und machte sich sogleich am Backofen zu schaffen, man möge sich setzen und dem geöffneten Rotwein zusprechen, es werde nicht lange dauern. Cengi ordnete das Geschirr, rückte die Weingläser und schenkte ein, auch für sich selbst ein Schlückchen.
    »Ich denke, du trinkst keinen Alkohol«, sagte Müller.
    »Ich bin kein Moslem«, antwortete Cengi. »Ich bin Alevit. Wir haben keine Verbote. Bei uns ist alles frei. Jeder entscheidet für sich. Manchmal trinke ich ein bisschen.«
    Bald saßen sie beim zweiten Gang, und als die Teller sich zu leeren und die Bäuche sich zu füllen begannen, hob Schlüter sein Glas, sie stießen wieder an, Clever und Zekiye mit Wasser, die anderen mit Wein, und Schlüter sagte: »Leute! Hört mir bitte zu! Wir müssen in die Zukunft sehen. Wir haben schreckliche Sachen hinter uns. Ich denke jeden Tag, fast jede Stunde an die Woche im März, als Paul und ich im Dersim waren. Veli Adaman ist tot. Helmcke ist tot. Der kleine Lars ist tot und …«, er zögerte und suchte Clevers Blick, »… drei Soldaten im Dersim sind tot. Die Vergangenheit können wir nicht mehr ändern. Nur die Zukunft können wir gestalten, indem wir in der Gegenwart handeln. Wir dürfen es nicht zulassen, dass die Vergangenheit unsere Zukunft bestimmt. Daher frage ich euch: Wo wollen wir in fünf Jahren angekommen sein?« Er sah sich erwartungsvoll um.
    Christa machte den Anfang: »Mit dir auf einer Reise durch Anatolien. Ohne Bücher. Wir kündigen unsere Wohnung und ziehen wieder aufs Land!«
    Schlüter sah sie mit großen Augen an und grinste.
    Clever erhob sich und sagte feierlich: »Ich sehe mich in Ovacık im Hotel in der Küche. Es ist Frieden im Dersim, weil die türkische Regierung sich für die Verbrechen der Vergangenheit entschuldigt hat. Die Soldaten sind fort und die Touristen kommen. Ich habe Besê Adaman geheiratet. Sie ist wieder ein bisschen froh.«
    »Siehst du«, kicherte Christa. »Da haben wir gleich ein ordentliches Hotel für die Reise. Aber ist Besê Adaman nicht zu alt für dich, Paul?«
    »Um das Alter geht’s dabei nicht. Das erklär ich dir nachher«, entgegnete Clever ernst und setzte sich.
    »Und ich gehe zurück nach Südfrankreich«,

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