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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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festzunehmen, sie abzuführen zum Verhör. Und dann wäre es mit ihm, Heyder Cengi, aus.
    Adaman holte die Kannen vom Herd und schenkte nach, etwas weniger Tee und etwas mehr Wasser als beim ersten Glas, das Goldene und das Transparente vereinigten sich noch über der Tasse und wirbelten lustig in den Gläsern.

    »Und wenn ich mich – hier stelle?«, fragte Cengi leise.
    »Dann bist du tot«, antwortete Adaman hart. »Du hast keine Chance. Sie werden dich verurteilen. Und dann abschieben. In den türkischen Knast. Du weißt doch, was mit Hüseyin und Ramazan passiert ist!«
    Cengi nickte. Hüseyin, der mittlere Sohn des alten Necati, war zum Militär eingezogen worden und in Haft gekommen, weil er sich geweigert hatte, Feuer an kurdische Dörfer zu legen. Im Gefängnis war er an einer Blinddarmentzündung gestorben, so hatten die Behörden mitgeteilt. Später hatten seine Verwandten erfahren, dass man ihn zwar operiert, dann aber sofort wieder in die Zelle zurückgebracht hatte, in der über zweihundert Leute steckten. Nach ein paar Tagen war er krepiert wie ein Hund. Cengi wusste, wie es dort zuging. Schlimmer konnte es in der Hölle, an die die Sunniten glaubten, auch nicht sein. In der Haft hatte er gelernt, dass die Aleviten recht daran taten, sich um ein gutes Leben im Diesseits zu mühen, als auf ein Paradies zu hoffen, in dem man sich auf Dauer nur langweilen würde. Wer zu sehr an die Hölle und das Paradies glaubte, verlor das Interesse am Leben im Diesseits.
    Und Ramazan, Cengis älterer Bruder, war verschwunden, nachdem die Gendarmerie ihn verhaftet hatte, weil er in die Berge gegangen war. So sagte man, wenn sich einer den Kämpfern anschloss. Alle Nachforschungen nach Ramazan waren vergeblich gewesen. Vermutlich hatte man ihn erschossen und verscharrt, denn wenn ihm die Flucht gelungen war, hätte es sicher ein Lebenszeichen von ihm gegeben. Keine Familie, in der es nicht Tote oder Gefolterte gab.
    Cengi war geflohen, weil er ein normales Leben führen und nicht in den Krieg ziehen wollte, vor allem aber, weil er nie wieder die Schreie gefolterter Frauen hören wollte, und nun hatte er hier einen Menschen getötet. Wieder hörte er das trockene Krachen des Genicks auf dem Betonmischer, sah die blicklosen Augen des toten Kontrolleurs. »Ich wollte ihn nicht töten!«, murmelte Cengi. Er hatte Mühe, seine Stimme zu halten.
    »Wir wissen das«, nickte Adaman. »Der Dede hat gesagt, dass sie dich vielleicht nicht wegen Mordes oder Totschlags verurteilen. Aber wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Sie werden dir vorwerfen, dass du fliehen wolltest, nicht stehen geblieben bist, dich nicht hast festnehmen lassen. Du bekommst mehrere Jahre, wie viele, weiß ich nicht. Und die werden sie nicht hier vollstrecken, sondern sie werden dich abschieben. Und dann – den Rest weißt du.«
    Den Rest wusste er.
    »Und hat der Dede auch verraten, wie ich damit fertig werden soll?«
    Adaman schlürfte mit spitzen Lippen seinen Tee. Dann stellte er das Glas auf die Untertasse zurück, dabei ließ er nicht das kleinste Klirren hören. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und faltete die Hände unter seinem Kinn.
    »Er hat gesagt: Das Größte, was uns Allah gegeben hat, ist unser Verstand, und: Wenig beten und viel arbeiten ist besser als viel beten und wenig arbeiten. «
    »Was soll ich daraus schließen?«
    Adaman lachte. »Ist doch ganz einfach! Grüble nicht! Wer grübelt, benutzt seinen Verstand auf eine falsche Weise. Er tritt auf der Stelle. Gott weiß, dass du das Geschehen bereust. Arbeite! Versorge deine Familie. Sie brauchen dich. Sie können nichts für das, was passiert ist. Du musst sie weiter versorgen. Schütze dich. Wenn du in Haft bist, kannst du sie nicht ernähren. Und du kannst sonst nichts tun. Auch nicht für die Familie dieses – Helmcke.«
    Adaman stand auf, um erneut Tee nachzuschenken. Wieder ein Strahl aus jeder Kanne, noch etwas mehr Wasser und etwas weniger Tee als beim zweiten Glas. Er traf genau und zitterte nicht.

5.
    Schlüter ging im Wohnzimmer – oder dem, was die Bücher davon übrig gelassen hatten – auf und ab und sortierte seine Gedanken. Christa war noch nicht da. Es war nach acht. Wo blieb sie nur? Er hatte sich einen Tee gekocht, einen richtigen ostfriesischen, den man aus großen Tassen, in die das ganze Gesicht passte, mit viel frischer Milch englisch trinken konnte, und unkonzentriert in der Erzählung von Björnsson geblättert, die er in letzter Zeit zu enträtseln

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