Paragraf 301
Jahren einen Kurden namens Mehmet aus Karakoçan, das war eine sunnitische Gegend, in der hauptsächlich Kurden wohnten; auch Mehmet und seine Leute waren in die Nähe von Elazıg gezogen, nachdem ihr Dorf zerstört worden war, denn auch in ihren angestammten Gebieten herrschte Krieg. Der Kurde wohnte das ganze Jahr in einer niedrigen Holzhütte mitten im Apfelhof, in der es weder Wasser noch ein Klo gab, deshalb verrichtete er seine Notdurft zwischen den Bäumen. Quast sprach nur verdrehtes Plattdeutsch mit seinem Türken, denn er wollte nicht, dass Mehmet Hochdeutsch lernte und selbstständig wurde und womöglich andere Arbeitgeber finden konnte, die ihm mehr gaben als nur vier Mark die Stunde; und doch ließ Mehmet von seinem Lohn ein vierstöckiges Mietshaus in Yazıkonak bauen. Es sollte ihn ernähren, nach der Heimkehr.
Adaman unterdrückte ein Seufzen, warf einen Blick auf das Bildnis des Hacı Bektas Veli und kehrte zum Tisch zurück, in jeder Hand eine Kanne.
»Lass uns endlich Tee trinken«, sagte er feierlich. In kunstvollem Bogen goss er ein, viel Tee und wenig Wasser, den Strahl nur einen winzigen Augenblick für die zweite Tasse unterbrechend. Er stellte beide Kannen zurück auf die Hexe, setzte sich und schob seinem Neffen die eine Tasse hinüber.
Sie nahmen sich Zucker, rührten mit kleinen Löffeln und tranken schlürfend den heißen Tee, wobei sie die Gläser nur mit Daumen und Zeigefinger am obersten Rand hielten, um sich nicht zu verbrennen. Adaman benutzte dabei immer seine linke Hand, an der keine Fingernägel fehlten.
»Tee ist Heimat«, sagte Adaman und schloss die Augen.
»Ja«, murmelte Cengi, »ohne Tee könnte ich nicht leben.«
Mit dem Glas, das man zwischen den Fingerspitzen hielt, kehrte die Erinnerung an die kleinen Stuben wieder, in denen der Bollerofen knisterte, wenn der Schnee bis an die Dächer reichte, wenn man dicht nebeneinander auf Kissen reihum an der Wand hockte und Tee miteinander trank. Hier sind die Zimmer größer, dachte Cengi, aber der viele Platz nützt einem nichts, denn man sitzt auf Stühlen weit entfernt und jeder für sich, als hätte man Angst voreinander. Er legte seine Arme auf den Tisch, fast berührten sie Velis. In Deutschland ist es kalt, dachte Cengi. Bei uns im Dersim findet man immer jemanden, mit dem man sprechen kann, keine Tür in den Laubengängen unserer Lehmhäuser ist verschlossen, du findest immer einen Nachbarn, der Zeit hat, du trinkst Çay mit ihm und hörst die neuesten Neuigkeiten. In Deutschland ist das anders. Die Leute sind für sich und machen die Tür hinter sich zu. Sie trinken keinen Tee, und wenn, dann aus riesigen Tassen. Sie reden wenig oder gar nicht oder zu viel oder zur falschen Zeit. Obwohl in der Heimat der Schnee im April noch Berg und Tal bedeckt, ist es doch irgendwie kälter in Deutschland.
»Wohin soll ich gehen?«, fragte Cengi. »Wenn ich hier nicht bleiben kann und auch nicht zurück nach Ruthensand?«
»Warte ab. Ich habe mir etwas überlegt.«
»Und was?«
»Ein Bauer. Er lebt allein auf seinem Hof«, erklärte Adaman. »Sicher kann er Gesellschaft gebrauchen.« Er lachte.
»Vielleicht sollte ich zurück in die Türkei?«, zweifelte Cengi.
»Das kannst du nicht«, erklärte Adaman kategorisch.
Nein. Das stimmte. Er würde über keine Grenze kommen, höchstens bis Holland mit einem zuverlässigen Fahrer, aber ein Flug von Amsterdam wäre zu gefährlich, vermutlich würde es einen internationalen Haftbefehl geben. Und selbst wenn – er würde in der Heimat kein Geld verdienen können. Arbeit gab es in ganz Ostanatolien nicht, schon gar keine, mit der er die Eltern, die Schwester und sich selbst ernähren konnte. Und schließlich würde er in der Heimat sofort zum Militär eingezogen werden für die restliche Dienstzeit, vor der er vor mehr als drei Jahren geflohen war, mit allen Folgen. Ein dreckiger Dimli und Dogulu aus einem der Dörfer des Dersim beim Militär! Er würde nicht verbergen können, dass er kein rechtgläubiger Sunnit war, sondern nur ein Alevit, ein Ketzer. Irgendwann würden sie herausbekommen, dass er aus Tunceli stammte und ein Kızılbas, ein Rotkopf, sein musste. Alle Rotköpfe aber waren geborene Kommunisten und alle Kommunisten würden früher oder später Kämpfer der PKK werden oder sie zumindest mit Lebensmitteln und Informationen versorgen – so würden sie denken und ihn gerade deshalb wieder im Osten des Landes einsetzen, ihm befehlen, Dörfer niederzubrennen, Männer
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