Paragraf 301
vieltausendfache Menschenmeute brüllte: »Töte sieben Aleviten, so k ommst du in den Himmel!« Die Menge umschloss das Hotel und es dauerte nicht lange, da flogen die ersten Steine in die Fenster, es folgten Brandsätze und dann schlugen die ersten Flammen aus dem Hotel.
»Da war Emin aber nicht mehr dabei«, versicherte Kaya außer Atem und mit ausgebreiteten Armen. »Da war er schon fortgegangen, schon am späten Nachmittag, zurück zu seiner Arbeit in einem Geschäft für gebrauchte Möbel. Emin hat nichts gemacht, er hat nur protestiert«, schloss der Türke seinen Bericht.
»Gegen was haben die Leute denn protestiert?«, hatte Schlüter dumm gefragt. »Ich meine, satanisch, was ist das?« Natürlich hatte er von dem Buch gehört, aber solange er Fragen stellen konnte, fühlte er sich auf der sicheren Seite. Wer Fragen stellte, war Herr des Gesprächs.
Das wäre schwer zu erklären, hatte der Dönermann erwidert. Er selbst sei ein gläubiger Muslim, er sei für Frieden und auch dafür, dass jeder Mann seine Religion ausüben dürfe, ob Christ, Jude, Moslem, das sei gleich, denn alle hätten sie ihr heiliges Buch und glaubten an den einen Gott. Aber wenn Gottlose seine Religion verhöhnen würden, dann sei es die Pflicht eines Gläubigen, zu protestieren und sich zu wehren.
Gegen Die satanischen Verse habe Emin Gül protestiert, gegen das Sudelbuch dieses Engländers aus Indien, »davon haben Sie bestimmt gehört«, sagte der Mann, gegen diesen gottlosen Schmierenschreiber, der reich geworden sei mit Gotteslästerung, irgendeine finanzstarke Gesellschaft habe ihn durch Geld dazu bewogen, das Buch zu schreiben, mehr als eine Million habe er dafür bekommen, ein Auftragswerk also, mit dem die Muslime in aller Welt beleidigt und verhöhnt werden sollten. Und natürlich habe Emin Gül auch gegen Aziz Nesin protestiert, ein vielfach vorbestrafter Kerl, ein Schmierfink, der sich damit brüste, dass er an nichts glaube, denn dieser sogenannte Schriftsteller habe das verruchte Buch auf Türkisch drucken lassen, um alle Türken mitsamt ihrer Sprache zu beleidigen. »Blut wird er spucken müssen, auch er, eines Tages!« Gegen diesen Vaterlandsfeind, der sich im Hotel verschanzt hatte mit seinen lästerlichen Kumpanen, die sich zusammengefunden hatten, um den Islam und den Staat zu beleidigen, habe Emin Gül friedlich protestiert. Dass man zur Tötung der Aleviten aufgerufen habe, damit sei man zu weit gegangen, denn geschrieben stehe, dass Allah selbst über jene richten wird, die ihn lästern, im Diesseits wie im Jenseits, und er wird jene sich selbst überlassen, die ihn schmähen. Aber sein Neffe habe recht getan, indem er friedlich geblieben sei, denn der Islam sei eine friedliche Religion, Emin habe nur demonstriert und seinen Ärger und seine Wut zeigen wollen an diesem Tag vor dem Hotel Madımak in Sivas, an diesem 2. Juli 1993, denn Allah liebt die Standhaften. Emin Gül habe nicht gewollt, dass so viele Menschen starben, und das habe er auch nicht zu verantworten.
»Wie viele sind gestorben?«, hatte Schlüter leise gefragt.
Siebenunddreißig waren es. Fünfunddreißig starben in dem Hotel, verbrannten in den Flammen, erstickten im Rauch, wurden erschlagen von niederstürzenden Steinen und glühendem Holz. Und zwei wurden erschossen.
»Was ist ein Alevit überhaupt?«, wollte Schlüter wissen. »Hab ich noch nie gehört.«
Das seien Männer, die den Propheten verleugneten, den Staat nicht anerkannten, das Türkentum ablehnten und ihre Frauen anderen zum Beischlaf anböten, und das im eigenen Hause, erklärte Kaya, während er den Ring mit den drei Halbmonden an seiner linken Hand drehte. Ihre Töchter würden sie ehrlos werden lassen.
Der Dönermann beugte sich zu Schlüter über den Tisch. »Sie tanzen miteinander bei Kerzenlicht«, flüsterte er. »Frauen und Männer zusammen! Und dann – dann blasen sie die Lichter aus und dann ist es dunkel und dann machen sie … dann treiben sie – Unzucht miteinander! Ja, das tun sie, Unzucht treiben sie, die Frauen mit den Männern, und schon die jungen, schon die ganz jungen geben sich hin, die noch keine richtigen Brüste …« Er leckte sich die Unterlippe und sein Gesicht schien Schlüter grün geworden, oder war es das Neonlicht?
»Ist doch unglaublich, oder?«, grunzte Kaya.
Diese Leute, fuhr Kaya fort und setzte sich mit verschränkten Armen zurück, und jetzt hatte er wieder sein braunes Gesicht, diese Leute, die in Unzucht und Sittenlosigkeit lebten,
Weitere Kostenlose Bücher