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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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suchte. Jetzt stand er am Fenster und starrte auf die roten Ziegelgefache und Giebelschnitzereien der gegenüberliegenden Häuserfront und dachte an den Auftrag, den er vor zwei Stunden bekommen hatte.
    »Es geht um meinen Neffen«, hatte Kemal Kaya gesagt und sich den Tee aus dem Bart gewischt, der seine Oberlippe verdeckte und so schwarz war wie Schuhwichse. Schon nach wenigen Sätzen hatte der Türke Schlüter in seine Geschichte hineingezogen und danach war es zu spät gewesen für Einwände.
    Ob er nicht doch hinunter und zurück zum Imbiss gehen sollte, um dem Mann zu sagen, dass er, Schlüter, sich in diese türkischen Dinge nicht einmischen wollte? Weil er davon nichts verstand und es zu lange dauern würde, bis er sich orientiert hatte? Weil er weder vom Asylrecht noch von Politik eine Ahnung hatte, und schon gar nicht von Religion?

    Schlüter beschloss zu warten, bis Christa käme, er würde sie fragen. Von Menschendingen verstand sie mehr als er.
    Wie würden sie, Christa und er, von hier oben fliehen können, wenn es brennen würde? Schlüter stellte seine Tasse auf der Fensterbank ab. Die schiefen fachwerkenen Fassaden der Altstadthäuser schienen zu schwanken. Das Kopfsteinpflaster glitzerte unter der Abendlaterne, in trügerischer Idylle. Wenn es hier brennen würde, gab es kein Entrinnen. Das Treppenhaus war wie ein Kamin, es würde in Minuten zur Hölle werden, die Flammen würden sich knisternd und fauchend hochfressen zum dritten Stock, die Farbe würde an der Tür herunterlaufen, in Blasen sich aufwölben, der Rauch durch alle Ritzen dringen und dann würde man husten und schreien, hin und her am offenen Fenster und noch eine Minute haben oder zwei. Die Tür würde zerbersten, die Glut würde dich anspringen, ihre heißen Krallen in deinen Rücken schlagen, man würde nicht brennen wollen und deshalb den wahnsinnigen Sprung tun in die Tiefe und den Tod.
    Schlüter fühlte ein Ziehen im Magen und drehte sich um. Er sah sich mit zerschmetterten Knochen im Gerbergang liegen, während die Flammen den Dachstuhl eroberten und die Ziegel die Leute von der Feuerwehr erschlugen.
    »Es war letztes Jahr in Sivas, als meinem Neffen diese schreckliche Sache passiert ist.« So hatte Kemals Geschichte angefangen.
    Schlüter vergaß seinen Tee und das Buch, er starrte aus dem Fenster auf das Pflaster des Gerbergangs hinunter, die Worte des Grillwirtes klangen in ihm nach, und während er überlegte, ob er alles richtig verstanden hatte, nahm das Geschehen an jenem Tage Gestalt an:
    Am 2. Juli 1993, einem Freitag, war Emin Gül in seinem Wohnort, einer türkischen Stadt im Osten Anatoliens, die Sivas heißt und an die zweihunderttausend Einwohner hat, als guter Muslim mittags gegen eins in die Moschee gegangen. Freitag ist der heilige Tag der Muslime und es ist eines guten Muslims Pflicht, zumindest an diesem Tag zum Mittagsgebet in die Moschee zu gehen – »in die Ulu Dschami, wissen Sie«, hatte der Dönermann gesagt. Gül hatte sich in die Moschee begeben, um das Gebet zu verrichten und auch um die Worte des Imam zu hören, die ihm Rat und Weg sein sollten.

    »Was ist das, ›Ulu Dschami‹? «, fragte Schlüter dazwischen.

    »Das heißt ›Große Moschee‹«, erklärte Kemal. »Dschami wird Camii geschrieben, ist Türkisch und heißt Moschee, wissen Sie, in fast jeder türkischen Stadt gibt es eine Ulu Camii, es wimmelt sozusagen davon bei uns zu Hause«, sagte er. »Diese ist die Lieblingsmoschee meines Neffen. Es liegt an der Atmosphäre.« Der Türke machte eine Kunstpause und senkte seine Stimme: »Die Moschee hat eine unglaubliche Atmosphäre, in ihr haben sich wundersame Dinge ereignet.« Er streckte seine Hand aus und legte sie kurz auf Schlüters: »Ich wünschte mir, Sie würden sie einmal sehen.« Er trug einen mächtigen goldenen Ring am rechten Ringfinger, mit drei Halbmonden, wie Möwen im Sturm.
    Schlüter ging auf die Bemerkung nicht ein und forderte den Wirt auf, in seinem Bericht fortzufahren.
    Der Imam predigte und schimpfte an diesem Freitag auf Die satanischen Verse, ein schändliches Buch, das so hieß, und auf einen bösen Mann mit Namen Aziz Nesin, »ein Ungläubiger, wissen Sie«, der noch stolz auf seinen Unglauben ist, der dieses Buch – oder Teile davon, was ist der Unterschied? – auf Türkisch veröffentlicht hatte. Dieser Mann paktierte mit Leuten, die sich Aleviten nannten, in Sivas kamen sie an jenem Tag zusammen, um Allah zu lästern. Nach der Predigt des Imams zogen die

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