Paragraf 301
wieder über die Sanftmut seines Onkels, der ihm am Tisch gegenübersaß, die nagellosen Finger in der Wölbung seiner Rechten verbergend. Entweder war er immer schon so sanft gewesen oder er war durch das Dritte Tor geschritten, welches das Tor der Erkenntnis ist.
»Söhl gefällt mir nicht«, fing Cengi wieder an. »Du sagst, er hasst dich besonders. Warum eigentlich?«
»Das ist ganz einfach«, erklärte Adaman leichthin. »Erstens würde er gern diese Wohnung haben. Er will immer das haben, was er nicht hat. Und außerdem – ich habe seinen Bruder, du weißt, diesen Dicken, den habe ich neulich zurechtgewiesen, er ist nicht gut mit einer Frau umgegangen, die hier zu Besuch war …«
Cengi war versucht zu fragen, was der Dicke getan hatte, ließ es dann aber. Neugier ist eine schlechte Angewohnheit, sagte Xal Veli stets. Wer sich entschlossen hatte, den Weg der Vier Tore und Vierzig Stufen zu gehen, um Weisheit zu erlangen, sollte nicht neugierig sein, sondern geduldig, bescheiden und schamhaft. Bescheidenheit ist der erste Schritt zur Weisheit. Neugierig sollte der Mensch nur sein in der Wissenschaft. Denn der Weg, der nicht durch die Wissenschaft führt, endet in der Finsternis.
»Söhl wird mitbekommen haben, dass ich seit vorgestern Abend hier bin«, sagte Cengi. »Und er wird sich wundern, wenn ich hier jetzt wohne. Weiß er eigentlich, dass du keinen Aufenthalt hast?« Er benutzte das deutsche Wort.
»Holthusen hat es ihm gesagt.«
»Warum das denn!?«, fuhr Cengi auf.
»Damit wir Angst voreinander haben. Söhl weiß, wovor ich Angst habe, und ich weiß, wovor Söhl Angst hat. Und beide wissen wir, was der andere weiß. So will Holthusen das. So will das einer, der Macht über seine Mitmenschen haben will. Holthusen hat mir erzählt, dass Söhl keine Tiere mehr halten darf. Das Gericht hat ihn wegen Tierquälerei verurteilt vor zwei oder drei Jahren und ihm die Viehhaltung verboten. Er hat seine Tiere verhungern lassen, dann wurde sein Hof versteigert und seitdem wohnt er hier.«
»Und wieso lässt Holthusen zu, dass Söhl trotzdem Schweine mästet und Pferde hält?«
»Weil er Söhl damit in der Hand hat. Holthusen hat ihm ein paar saure Weiden gegeben, hinten im Moor, für die Pferde. Pacht kann Söhl nicht bezahlen, er muss sie abarbeiten, und so hat Holthusen einen billigen Arbeiter. Mich hat er auch in der Hand, denn er könnte mich jederzeit an die Polizei verraten. Aber immerhin gibt er mir noch etwas Geld dazu, denn er weiß, dass ich auch einen anderen Platz finden würde. Solange ich ihm nütze, bin ich sicher. Außerdem kann ich von hier aus in die Stadt fahren und dort arbeiten, wenn Holthusen für mich keine Arbeit hat.«
»Die Deutschen sind komische Leute«, sinnierte Cengi und befühlte den aufgeweichten Wundschorf seiner vom Stacheldraht zerschnittenen Hände, mit denen er noch nicht wieder richtig arbeiten konnte.
»Ach«, sagte Adaman. »Schlechte Leute gibt’s auf der ganzen Welt.« Er stand auf. »Der Tee ist längst fertig.«
Er warf einen Kontrollblick aus dem Fenster nach Osten, prüfte den schmalen Brockenweg, der durch den Apfelhof zur Straße führte und erst nach ungefähr hundertfünfzig Metern zum Fleet abschwenkte. Er würde jeden sehen, der sich dem Haus näherte, und wenn er schnell genug war, würde er aus einem der Fenster springen oder aus der Tür und im umliegenden Apfelhof verschwinden, durch die Zäune, die er heimlich zerschnitten hatte, mit wenigen Sprüngen, hinter den Spalierbäumen, die an Drähten wuchsen und so dicht standen, dass man, jedenfalls während der Vegetationszeit, hinter ihren Blättern unsichtbar wurde. Über das Fleet hatte Adaman einen hölzernen Steg gelegt, er konnte jenseits über die schwarzen Schollen des Ackers fort. Aber die Polizei war bisher noch nicht gekommen. Adaman dachte an Söhls starre Augen und sein schiefes Grinsen. Vielleicht habe ich zu viel Angst vor der Polizei und zu wenig vor Söhl.
In diesem Apfelhof konnte man leben, ohne anderen Menschen zu begegnen als den Söhls und Holthusen und seiner Sippe, wenn sie vom Hofplatz, der noch weiter im Moor lag, zur Arbeit in den Plantagen kamen; nicht einmal der Briefträger fuhr bis ans Haus, weil der vorsichtige Holthusen einen Postkasten an der Straße angebracht hatte. Es gab mehrere solcher Apfelhöfe am Rande des Moores und Veli Adaman war nicht der einzige Illegale, der hier Unterschlupf gefunden hatte. In der Nachbarschaft beschäftigte der Obstbauer Quast seit
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