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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Männer ihre Schuhe wieder an und strömten auf die Straße, aus der Ulu Camii und auch aus den anderen Moscheen zum Sitz des Gouverneurs …
    »Wieso auch aus den anderen?«, fragte Schlüter nach. »Wie viele Moscheen gibt es denn in dieser Stadt?«
    Der Türke hatte gelacht, dass ihm der Bauch wackelte. »Na, Sie sind witzig«, erklärte er und strich sich den Schnurrbart glatt. »Eine einzige Moschee für zweihunderttausend Leute! Wie soll das denn gehen? In Hemmstedt gibt es doch auch nicht nur eine Kirche, sondern, wenn mich nicht alles täuscht, mindestens drei – die Wulfhardi-Kirche, die Cosmae-Kirche, die – na, ich kenn sie nicht alle, und bei uns gibt es eben auch mehrere Moscheen.«

    »Wie viele denn?«, wiederholte Schlüter, obwohl es ihn eigentlich nicht interessierte und außerdem kamen sie vom Thema ab.
    »Über siebzig!«, antwortete Kaya stolz. »Und allein die Ulu Camii gibt dreitausendfünfhundert Männern Raum zum Gebet!«
    Schlüter begann automatisch zu rechnen. Hemmstedt hatte vierzigtausend Einwohner und vier Kirchen. Das macht, auf Sivas übertragen, zwanzig Kirchen …
    »Und die Frauen?«, fragte er.
    »Die Frauen verrichten ihre religiösen Pflichten meistens zu Hause«, klärte Kaya gönnerhaft den unwissenden Schlüter auf. »Und in der Ulu Camii gibt es eine kleinere Abteilung für die Frauen, einen abgesonderten Raum, in dem sie unbehelligt von den Blicken der Männer beten können.«
    Der Türke kehrte zum Thema zurück. Aus der Ulu Camii und den anderen Moscheen der Stadt zogen die Männer zum Sitz des Gouverneurs, der sich nicht weit von der Großen Moschee entfernt befand – »das Herz der Stadt, dort trifft der Inönü Bulvarı auf den Atatürk Bulvarı. Jede Stadt hat einen Atatürk Bulvarı, Sie wissen schon, unser Staatsgründer …« Kaya drückte seine Brust heraus.
    In einem grausteinernen plumpen Gebäude saß der überraschte Gouverneur. Ihn wollten die Leute zur Rechenschaft ziehen, denn er hatte die Versammlung der Gottlosen genehmigt, statt sie zu verbieten, wie es sich gehört hätte. Die Leute brauchten nur die paar hundert Schritte zum Atatürk Boulevard zu gehen, sie kamen an der Meydan Camii vorbei, wo sich ihnen weitere Männer anschlossen, passierten die Pasa Camii, auch aus der strömten viele Männer, und dann erreichten sie die schmale Seitenstraße, in der, nur zwanzig Meter vom Boulevard entfernt, das Hotel Madımak lag, eingeklemmt in der Häuserzeile, schmal und vierstöckig, große rote senkrechte Leuchtbuchstaben. In diesem Hotel hatten sich die Gottlosen versammelt, lümmelten sich in den Sesseln im Foyer und sangen ihre lästerlichen Lieder. Aus der Querstraße quollen die Leute aus der Aliag a Camii und die zur Masse gewordenen Männer schoben sich immer weiter . Von der anderen Seite her strömten die Männer aus der Kale Camii oder aus wer weiß welchen Moscheen sonst noch, denn in allen Moscheen waren an diesem Freitag das Treffen der Aleviten und Aziz Nesin und Die satanischen Verse das Thema der Predigt gewesen.
    Und alle wollten sie zum Gouverneur, der die Versammlung dieser Gottlosen zu verantworten hatte. Der aber hatte der Polizei befohlen, die anrückende Menge auseinanderzutreiben, die dann zurückströmte, wieder ein Stück den Atatürk Boulevard hinunter in die enge Belediye Sokak hinein und direkt bis vor das Hotel, in dem die Lästerer steckten. Von überall her, aus allen Vierteln der Stadt kamen Männer, immer mehr Männer, sie quollen aus den Gassen wie Linsen aus einem Sack, und nur Allah weiß, woher sie alle gekommen waren. Hinter der gläsernen Front des Hotels war nur manchmal ein verwischtes Gesicht zu sehen, denn es war klar: Die Gottlosen hatten Angst. Sogar das Restaurant gegenüber, das Örnek Lokanta, habe dichtgemacht und keinen mehr hereingelassen, erzählte Kaya.
    Die Polizei habe die Menge nun in die andere Richtung gedrängt, zurück zum Sitz des Gouverneurs, aber auch dort habe die Polizei sie empfangen, und so sei es immer hin- und hergegangen, bis zum Abend, und immer wütender seien die Männer geworden, Schulter an Schulter begannen sie zu skandieren. »Sieg für den Islam!«, rief es aus vielen Kehlen und: »Wir sind zum Sterben gekommen, wir sind zum Begräbnis von Nesin gekommen«, von der Aliag a Camii her schrie ein Haufe: »Nesin, der Teufel!«, und andere brüllten es nach, sie hieben ihre Fäuste im Takt in die Luft, und wieder andere schrien: »Es lebe die Scharia!«, bis die ganze

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