Paragraf 301
Konak Köyü und Pulur Ovacık. Dort hatte ihn sein Vater bei der Behörde angemeldet, zusammen mit der vier Jahre älteren Schwester Belfe, und weil der Vater sich an den Tag ihrer Geburt nicht mehr erinnern konnte, hatte er bei beiden den 1. Januar angegeben. Geburtstage waren unwichtig. Viel wichtiger war, dass die Schulen wieder geöffnet hatten und es Hoffnung auf Bildung gab, damals in den Siebzigern, und zur Schule durften nur die registrierten Kinder gehen.
Sechs Jahre später brannten die Schulen in Dersim erneut, die Eltern flohen nach Elazıg und ve rsteckten sich in der Anonymität der Stadt, zogen sich zurück in eine dunkle Wohnung in einer der schmalen Gassen im Viertel der Tuchhändler, nicht weit von dort, wo man einst Seyit Rıza hingerichtet hatte. Sie kehrten Jahre später wieder in ihr Dorf zurück, weil sie Heimweh nach dem alten Leben hatten. Das Dorf gab es nicht mehr, vor zehn Monaten hatte die Armee die letzten Einwohner vertrieben und die Häuser, die Felder und den Wald in Brand gesetzt. Das Tal, in dem Cengis Familie früher gewohnt hatte, war nackt und kalt, das Dorf eines von zweihundert Dörfern, die in diesen Jahren zerstört worden waren, ein Haus von mehr als fünfzehntausend, eine Familie von mehr als zwanzigtausend Menschen, die ihre Heimat verloren hatten. Und so wohnten sie jetzt in einer Hütte in Ovacık.
Cengi merkte, dass er nicht mehr auf Deutsch dachte, sondern auf Dersimci, dem Zaza-Dialekt, den man schon unten in Elazıg , jenseits des aufgestauten Euphrat, nicht verstand. Xal Veli hatte Cengi erst in Deutschland die Muttersprache richtig beigebracht. Denn in der Heimat war ihre Sprache verboten gewesen, die Eltern hatten mit den Kindern Türkisch gesprochen, damit der Lehrer sie nicht schlug. Wer die verriet, die Dersimci sprachen, wurde belohnt und zum Spitzel gemacht.
Aber hier in der Fremde konnten Onkel und Neffe unbekümmert in ihrer Muttersprache reden.
Adaman schob die Tassen auf dem Tisch zurecht.
»Ich weiß bald selbst nicht mehr, wer ich bin«, sagte Cengi bedrückt. »Und außerdem hilft mir der falsche Name nicht. Hier bin ich Murat Açikgöz. Und nach dem werden sie suchen.«
»Auch das weiß Söhl nicht«, beruhigte Adaman. »Er weiß nur, dass du mit mir verwandt bist. Dass du mein Neffe bist. Das stimmt ja auch. So ungefähr. Ich werde ihm sagen, dass du, sagen wir – Perihan heißt, ganz einfach. Den Namen kann er dann von mir aus jedem erzählen.«
In Veli Adamans grauem Gesicht konnte Cengi nichts ablesen. Es wirkte entspannt wie immer, fast heiter. Wenn man Veli fragte, wie es ihm gehe, würde er immer lächeln und ›Xatere semah‹ sagen: Danke, gut, alles in Ordnung, wunderbar. Und man würde seine Lachfalten sehen.
»Das wäre mein dritter Name«, sagte Cengi. »Ich würde viel darum geben, einmal wieder so zu heißen, wie meine Eltern mich genannt haben.«
»Das ist nicht die Zeit«, schüttelte Adaman den Kopf. »Jemand, der den Beinamen Alis trägt, muss ihn nicht stets im Munde führen. Und es gibt Schlimmeres. Perihan, so hieß dein Großvater. Ist doch kein schlechter Name, oder?« Adaman lächelte amüsiert. Wie viele Namen hatte er selbst schon getragen?
»Und wenn Söhl trotzdem herausbekommt, dass man nach mir sucht?«
»Dann wird er dich verpfeifen«, stellte Adaman trocken fest. »Sofort. Deshalb kannst du nicht lange hierbleiben. Söhl hasst alle Fremden. Uns besonders. Und mich – ganz besonders. Er denkt, er ist besser als wir, weil er hier schon sein ganzes Leben gelebt hat, und alle seine Vorfahren. Und er hat ein bisschen Angst vor uns, weil wir anders sind als er.«
»Warum ist er so dumm?«, fragte Cengi.
»Die Menschen sind so«, entgegnete Adaman und zuckte mit den Schultern. »Nichts Besonderes. Leute, die selten Fremde sehen, denken oft, dass sie besser sind als die Fremden, und gleichzeitig haben sie Angst vor ihnen. Das ist natürlich dumm. Aber normal. Unsere Leute denken doch genauso über die Türken. Hass und Angst.«
»Das ist ja wohl auch berechtigt!«, widersprach Cengi.
»Nicht alle Türken sind schlecht, das weißt du. Viele sind Aleviten wie wir und auch nicht alle Aleviten sind gute Leute. Und die Sunniten sind nicht alle schlecht, auch dann nicht, wenn sie manchmal schlechte Taten begehen. Viele Sunniten sprechen Zazaki oder Kurdisch und leiden unter den gleichen Verboten wie wir, vergiss das nicht.«
Achte zweiundsiebzig Religionen, pflegte Veli Adaman zu sagen. Cengi wunderte sich immer
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