Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
Vom Netzwerk:
Celle.

    Jedenfalls würde er den Stein so bald wie möglich zurückgeben. Er atmete tief durch und spürte, wie die Luft in die Spitzen seiner Lungen drang. Ich lebe, dachte er. Man muss sich etwas gönnen. Zumal jetzt Wochenende war. Christa. Er würde nach Hause eilen und Christa holen, bevor sie womöglich allein gegessen hatte. Sie würden heute Abend mal nicht lesen, sondern türkisch speisen. Und dabei würde er ihr alles erzählen. Und versuchen, etwas davon zu verstehen. Wie konnte eine Religion siebenhundert Jahre im Geheimen überleben? Ohne Bücher, ohne Schriften? Musste das nicht eine mächtige, eine faszinierende Religion sein?
    Er reservierte den Tisch und ging.

Teil 2
Niederlagen

 
    Schweig Nachtigall, im Garten herrscht Trauer,
Weil du, mein Freund, hier bist und ich fern von dir.
Mein Docht verbrannt, mein Wachs ist weggeschmolzen.
Freund, dein Leid entflammt in mir.

    Pir Sultan Abdal (1480–1550), türkisch-alevitischer Dichter

19.
    Emin Gül saß auf dem Rücksitz von Kayas Mercedes, die Arme auf der Rücklehne ausgebreitet. Wippen konnte er hier nicht und das verdammte Knarren seiner Lederjacke war im Geprassel der Kopfsteine nicht zu hören. Sie suchten nach einem Parkplatz und fuhren eine einspurige Straße entlang, vorbei an einem Park, in dem es ein Schloss mit Teich und Enten darin gab und dauerlaufende magere Herren und Damen in fortgeschrittenem Alter. Und das bei dem Wetter. Hatten die alle nichts Vernünftiges zu tun?
    Schlüter mied es, wann immer er konnte, zum Hohen Gericht nach Celle zu fahren, und nach dem Abend mit Veli Adaman am letzten Freitag wäre er heute erst recht am liebsten zu Hause geblieben. Auf welcher Seite stand er? Auf Adamans oder Güls? Und waren das überhaupt zwei Seiten, die sich nicht miteinander vertrugen? War er, Schlüter, auch einer von denen, die jedes Brot fraßen, gleich aus welcher Hand? Er dachte an Christa, die geweint hatte, als er am Abend Adamans Bericht, so gut er konnte, wiederholt hatte. Später, nach dem Essen und wieder zu Hause, hatten sie den alten Atlas vorgeholt und mit den Fingern über das Munzurgebirge gestrichen. Dieser Adaman und seine Leute, sagte Christa, die hätten nichts, nichts, nichts … Niemanden, der mit ihnen leiden, ihr Leid teilen könne, niemanden, der ihre Berichte vorbehaltlos für wahr halten würde, denn es sei ja nichts dokumentiert. Ach wirklich? Was du nicht sagst? Wer den Holocaust leugne, der werde bestraft in Deutschland, aber in der Türkei sei das genau umgekehrt: Es werde derjenige bestraft, der ihn behaupte. Nicht der Täter, sondern der Bote wird bestraft. Beleidigung des Türkentums heißt der Paragraf, hatte Adaman erzählt.
    »Ein vergiftetes Land muss das sein«, sagte Christa. »Ich will nie dahin.«
    Und jetzt war er ausgerechnet mit Aleviten-Hassern unterwegs, mit einem Völkermordstein in der Tasche, mit Leuten, die zwar keine Scheiterhaufen anzündeten, sich aber trotzdem freuten, wenn ein Ketzer darin verbrannte. Jedenfalls für Kaya traf das zu. Aber auf die Gesinnung kommt es nicht an, dachte Schlüter, sondern darauf, ob Gül ein Brandstifter ist oder nicht. Nach Aktenlage war das türkische Verfahren gegen Gül unfair gewesen, seine Gesinnung hatte man bestraft, seine Täterschaft konstruiert, eine strafrechtliche Schuld nicht nachgewiesen. Also durfte er, Schlüter, auch für ihn eintreten, ja er war sogar dazu verpflichtet.
    Es gab nichts Grässlicheres, als gesprächigen Mitmenschen ausgeliefert zu sein, aber Schlüter hatte nicht den Mut aufgebracht, Kayas Mitfahrangebot abzulehnen. Gül sprach immer noch kein Deutsch und schwieg, aber Kaya hatte Schlüter die ganze Fahrt hindurch mit dem steten Strom seiner Rede begossen; er sprach von der Ungerechtigkeit, die Gül in der Türkei widerfahren sei; der Gerechtigkeit, die ihm heute in Celle widerfahren werde; von den Sorgen und Nöten eines Grillwirtes mit den Behörden, insbesondere dem Gewerbeaufsichtsamt in Cuxhaven, dem Personal und den unhöflichen Gästen, und nicht zuletzt: den viel zu niedrigen Umsätzen. Er berichtete von seiner vielköpfigen Familie, von seinem zwölfjährigen Sohn, der das Gymnasium in Hemmstedt besuche und dort »der einzige Ausländer in der Klasse« sei, wie Kaya stolz bemerkte, während der Sohn in der Grundschule mit seinen Klassenkameraden aus Kasachstan, Pakistan und Sibirien, Libanon und Palästina die nicht deutsche Mehrheit gestellt habe; am schlimmsten seien die Araber gewesen, »zwei Gesichter

Weitere Kostenlose Bücher