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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Freiheitsstrafen bis zu fünfzehn Jahren und die übrigen sechzig Angeklagten – darunter Gül – wegen Verstoßes gegen das Versammlungsverbot zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt worden, die das Gericht wegen der Minderjährigkeit des Verfolgten auf zwei Jahre abgemildert habe. Dieser, so die Feststellungen des türkischen Gerichts, habe sich nach dem Moscheebesuch aufgrund spontaner Entscheidung der rechtswidrigen, weil amtlich aufgelösten Demonstration angeschlossen, habe mit den anderen Parolen gerufen, sich aber anschließend entfernt und sei dann bei den nachfolgenden Ereignissen vor dem Hotel nicht mehr anwesend gewesen. Der Verfolgte sei aus der Untersuchungshaft entlassen worden.

    Gegen das Urteil habe die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt, fuhr die Richterin fort. Die 9. Strafkammer des Kassationsgerichts habe das erstinstanzliche Urteil aufgehoben. Der Verfolgte, so das türkische Gericht, habe nicht nur gegen das Versammlungsverbot verstoßen, sondern er habe an einem gewaltsamen Versuch, die Verfassung der Türkei zu verändern oder zu beseitigen, teilgenommen, wenn auch als untergeordneter Teilnehmer, indem er die Chöre der Menschenmenge »Nieder mit dem Laizismus« und »Es lebe das Schariat« mitgerufen habe. Es sei Haftbefehl ergangen, jedoch sei der Beschuldigte inzwischen flüchtig und untergetaucht gewesen.
    Nach anschließender Neuverhandlung der Strafsache vor dem 1. Staatssicherheitsgericht in Ankara sei der Verfolgte nunmehr einer aus achtunddreißig Personen bestehenden Gruppe von Angeklagten zugeordnet worden, die an den gesamten Vorgängen – insbesondere auch der Beschädigung der Atatürk-Büste und der Inbrandsetzung des Hotels – teilgenommen habe. Alle seien zum Tode verurteilt worden, wobei das Todesurteil gegen den zur Tatzeit noch minderjährigen Verfolgten auf zwanzig Jahre Freiheitsstrafe ermäßigt worden sei. Dieses Urteil sei rechtskräftig und bilde nunmehr die Grundlage für das Auslieferungsersuchen der türkischen Behörden zum Zwecke der Strafvollstreckung.
    »Wollen Sie dazu Ausführungen machen?«, übernahm der Vorsitzende die Regie.
    Soll das heißen, dass mein schriftlicher Vortrag nicht ausreichend war?, überlegte Schlüter hastig.
    Die Pokergesichter hinter dem Tresen zeigten keine Regung. Sie schwiegen und warteten.
    Räuspernd erhob sich Schlüter: »Hohes Gericht. Der Sachverhalt ist zutreffend festgestellt worden. Daraus ergibt sich, wie ich schon schriftsätzlich vorgetragen habe, dass ernstliche Gründe für die Annahme sprechen, dass die von der türkischen Republik beabsichtigte Strafverfolgung gegen den Verfolgten« – Schlüter wandte sich in einer angedeuteten Drehung seinem Schützling zu – »in einer über die bloße Ahndung hinausgehenden Weise den Charakter der politischen Verfolgung in sich trägt. Das Auslieferungsverfahren dient einer Ahndung staatsfeindlicher Aktivitäten durch die Anwendung von Staatsschutzdelikten, deren Unrechtsgehalt ausschließlich oder ganz überwiegend durch den Angriff auf ein politisches Rechtsgut geprägt ist. Es liegt auf der Hand, dass die dem Verfolgten angedrohte Behandlung – also die Vollstreckung einer zwanzigjährigen Freiheitsstrafe – härter ausgefallen ist als die sonst zur Verfolgung ähnlich gefährlicher Straftaten in der Türkei übliche.«

    Keine Reaktion. Die Augen des Vorsitzenden waren ausdruckslos, die Berichterstatterin sah mit kaltgrauem Blick in eine Ferne, die es nicht gab, und die Beisitzerin blätterte alibimäßig in einem Stapel Papier, offenbar nur, um nicht für eine Beischläferin gehalten zu werden. Das Gericht trieb seine Unvoreingenommenheit auf die Spitze. Gesichtsbewegungen konnten als Gefühlsäußerungen und damit als Befangenheit interpretiert werden. Wie soll man unter solch keimfreien Bedingungen geordnet denken und reden?, fragte sich Schlüter und zwang sich zur Fortsetzung.
    Er begründete, warum der Nachweis, dass Gül an der erkennbar nicht organisierten Demonstration teilgenommen habe, zwar geführt sei, jedoch nicht derjenige, dass er auch an aktiven Handlungen beteiligt gewesen sei. Gül habe seine spontane Teilnahme ausdrücklich eingeräumt, sich jedoch bei der Polizei dahingehend eingelassen, dass er im Verlauf des Nachmittags wieder zu seiner Arbeitsstelle zurückgekehrt sei.
    »Als es zu brennen begann, war er nicht mehr dabei«, schloss Schlüter.
    »Das werden wir Herrn Gül selbst fragen«, antwortete die Berichterstatterin kühl.

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